In den beiden Wintermonaten 2018-19 begingen drei Personen Selbstmord, weil  ihnen die Ausweisung aus Belarus drohte. Dazu gehörte die angedrohte Ausweisung eines Mannes aus dem Grund, dass er nachts keinen Sicherheits-Reflektor getragen hatte.

Ende 2018 startete „Nasch dom“(„Unser Haus“) eine Solidaritätskampagne für Anna Krasulina, der Pressesprecherin der Vereinigten Bürgerpartei, der aus politischen Gründen die Ausweisung aus Belarus drohte.

Damals endete diese Solidaritätsaktion mit Erfolg – Anna Krasulina blieb in Belarus.

Heute möchten wir berichten, was mit denen geschieht, die in der „unsichtbaren“ Zone geblieben sind und nicht die nötige Aufmerksamkeit, Unterstützung und Schutz erhalten haben und Selbstmord begingen, um auf die Verletzung ihrer Rechte hinzuweisen. Insbesondere drei ausländische Bürger, die sich nicht kannten, begingen in den letzten Wintermonaten Selbstmord wegen der drohenden Ausweisung aus Belarus.

Fall 1: Sergeiy Borissow

Im Dezember 2018 beging der 35-jährige Sergej Borissow Selbstmord. Der Mann wurde in Belarus geboren, später zog seine Familie in den Norden der Sowjetunion, wo er einen sowjetischen Pass erhielt, der dann durch einen russischen ersetzt wurde. Seit 17 Jahren lebte Sergei in Loev, wo auch seine Mutter und sein behinderter Bruder lebten. Er hatte eine bis Ende 2019 gültige Aufenthaltserlaubnis in Belarus.

Chronik der Ereignisse:

  1. Dezember 2018 – Die Abteilung für Staatsbürgerschaft und Migration des Innenministeriums des Kreises Loevski beschloss, Sergej Borisow aus Belarus auszuweisen. Der Ausweisungsbefehl besagt, dass er im vergangenen Jahr zwei administrative Verstöße begangen habe: betrunkenes Auftreten in der Öffentlichkeit und ein kleinerer Diebstahl.
  2. Dezember 2018 – Sergej und seine Mutter sollten zu einem Notar gehen. Trotz der Verabredung kam er nicht und war auch telefonisch nicht zu erreichen. Seine Mutter und sein Bruder öffneten seine Wohnung und fanden ihn tot vor. Um ihn herum lagen drei Abschiedsbriefe. Sergej schrieb, dass er keinen Ort habe, wo er hingehen könne.
  3. Dezember 2018 – an diesem Tag endete die Frist für Sergej Borisow, das Gebiet von Belarus freiwillig für vier Jahre auf eigene Kosten zu verlassen.
  4. Januar 2019 – nach Medienberichten über den Tod von Sergej Borissow wurde die Voruntersuchung wieder aufgenommen.

März 2019 – Die Untersuchung  wurde eingestellt.

 

Fall 2: Nikolai Demidenko

Am 31. Dezember 2018 beging der 68-jährige Nikolai Demidenko Selbstmord. Er wurde im Dorf Ugly, Kreis Bragin, geboren, von wo aus er später nach Karelien zog. Vor etwa 12 Jahren kehrte Nikolai in das Dorf Chrakovichi zurück, das sich in der Grenzregion von Tschernobyl befindet. Seine Geschwister lebten auch in der Region Gomel.

Es ist bekannt, dass Nikolay Demidenko einen alten sowjetischen Pass hatte, den er auf dem Territorium von Russland bekommen hatte. Der Prozess zur Erlangung der belarussischen Staatsbürgerschaft verzögerte sich, weil  er Alkoholprobleme hatte. Aus dem gleichen Grund wurden ihm mehrere Ordnungsstrafen auferlegt. Offensichtlich wegen der drohenden Ausweisung wegen unbezahlter Bußgelder, hat dieser ältere Mann, der nirgendwo hingehen konnte,  sein Leben beendet.

Fall 3: Vitaly Kuzmenkov

Am 15. Januar 2019 beging der 40-jährige Vitaly Kuzmenkov Selbstmord. Der in Russland geborene Mann hatte in den letzten 14 Jahren im Dorf Negovka im Kreis Buda-Kosheleva  gelebt. Er hatte eine Familie und sechs Kinder.

Vitaly arbeitete als Schlachter in einem Fleischverarbeitungsbetrieb, wo er entlassen wurde, weil er bei der Arbeit betrunken war. Zuvor war er einige Male ohne Reflektor festgehalten worden. Die Polizei nahm seine Aufenthaltserlaubnis weg und drohte, ihn für 10 Jahre auszuweisen. Die Witwe von Kuzmenkov glaubt, dass es die Gefahr der Ausweisung war, die ihren  Mann dazu brachte, sich zu töten.

Schlussfolgerungen von Experten und Menschenrechtsaktivisten von „Nasch dom“:

In den drei beschriebenen Fällen hatten die Männer, die wegen der drohenden Vertreibung aus Belarus Selbstmord begangen haben, mehr als 10 Jahre im Land gelebt. Sie hatten  dort Verwandte und Familien. Alle drei hatten keine Möglichkeit, ins  „Nirgendwo“  zu fahren. Darüber hinaus wurden zwei von ihnen auf dem Gebiet von Belarus geboren. Sie lebten in kleinen Gemeinden, wo der niedrige Lebensstandard die Menschen oft dazu bringt, Alkohol zu missbrauchen. Die Ordnungsdelikte, wegen derer diese Männer möglicherweise aus dem Land ausgewiesen werden sollten, hängen hauptsächlich mit dem Alkoholkonsum zusammen und  damit, dass sie sich im alkoholisierten Zustand an öffentlichen Orten aufhielten.

Nach dem Gesetz „Über den Rechtsstatus von Ausländern und Staatenlosen auf dem Gebiet der Republik Belarus“ kann die Ausweisung im Falle einer Bedrohung der nationalen Sicherheit, im Interesse der öffentlichen Ordnung, des Schutzes der Moral, der öffentlichen Gesundheit, der Rechte und Freiheiten der Bürger*innen erfolgen. Gleichzeitig besagt Artikel 11 der Verfassung der Republik Belarus, dass ausländische Staatsbürger*innen und Staatenlose auf dem Territorium der Republik Belarus die gleichen Rechte und Freiheiten genießen und die gleichen Pflichten wie Bürger*innen der Republik Belarus erfüllen.

Im Gegensatz zu den Bürger*innen der Republik Belarus werden jedoch die von Ausländer*innen begangenen ordnungswidrige Taten nicht gelöscht, wenn sie im Laufe des Jahres keine anderen Ordnungswidrigkeiten begangen haben, sondern zusammengefasst. So werden unbedeutende und geringfügige Delikte, wie z.B. der Aufenthalt an einem öffentlichen Ort unter Alkoholeinfluss oder das Fehlen eines Reflektors, gesammelt. In der Summe dieser Straftaten kann eine Person durch Beschluss der Verwaltung des Innenministeriums aus dem Land ausgewiesen werden.

Die Unverhältnismäßigkeit der Straftaten ähnelt derjenigen, die in der Situation mit dem „Drogenartikel“ 328 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus zu beobachten ist. „Nasch dom“ („Unser Haus“) hatte zuvor Selbstmordfälle wegen übermäßiger Bestrafung für geringfügige drogenbezogene Verbrechen untersucht. So können wir sagen, dass die übermäßig hohe Bestrafung in unserem Land zu einem System wird. Darin sehen wir einen Widerspruch zum Grundsatz des Humanismus, der in Artikel 2 der Verfassung der Republik Belarus verankert ist und besagt, dass das Individuum, seine Rechte, Freiheiten und Garantien ihrer Realisierung das höchste Ziel und der höchste Wert der Gesellschaft und des Staates sind.

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