Interview mit der belarussischen Aktivistin Olga Karatsch
Die belarussische Aktivistin Olga Karatsch
© Amnesty International, Foto: Jarek Godlewski
In Belarus verbüßen tausende junge Menschen lange, fragwürdige Haftstrafen wegen kleiner Drogenvergehen. Die Organisation „Nash Dom“ von Olga Karatch setzt sich für sie ein. Die 40-jährige Philologin und Politologin Olga Karatsch engagiert sich seit vielen Jahren für die Menschenrechte in Belarus. Im Jahr 2005 gründete sie die Vereinigung „Nash Dom“. Anfangs engagierte sich die Organisation vor allem für Transparenz bei kommunalen Entscheidungen, inzwischen für die Menschenrechte im ganzen Land.
Frau Karatch, welche Ziele verfolgt die Organisation „Nash Dom“, deren Vorsitzende sie sind?
„Nash Dom“ bedeutet: Unser Haus. Und unser Ziel ist, dass die Menschen in Belarus frei über ihr gemeinsames Haus, unser Land, entscheiden können. Wir veranstalten Kampagnen für die Menschenrechte und andere Themen, seit September 2018 legen wir den Fokus auf die Kampagne „Kinder 328“.
Was bedeutet „Kinder 328“?
328 bezieht sich auf Artikel 328 des Strafgesetzbuchs. Schätzungsweise zwischen 12.000 und 18.000 Menschen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren sind wegen dieses Artikels inhaftiert, viele davon waren bei der Verhaftung minderjährig. Häufig geht es um den Besitz geringer Mengen an Marihuana, doch die Strafen fallen drakonisch aus: Es stehen zehn Jahre Haft darauf. Oft werden die jungen Leute in eine Falle gelockt. Sie werden auf Partys von Unbekannten zum Drogengebrauch animiert, manche gehen darauf ein, manche nicht. Am Ende werden alle verhaftet, die auf der Party waren. Es gibt auch Fälle, dass den Jugendlichen übers Internet Jobs angeboten werden. Sie sollen zum Beispiel online Shisha-Tabak verkaufen. Sie unterzeichnen einen Vertrag, wissen aber nicht, dass es in Wirklichkeit um Drogen geht. Dann werden sie verhaftet. Von der Polizei werden sie dazu gedrängt, zuzugeben, dass sie mit Drogen gehandelt haben, und ein entsprechendes Protokoll zu unterzeichnen. Die Eltern werden erst gar nicht kontaktiert.
Warum wird so mit den Jugendlichen umgegangen?
Weil der Staat billige Arbeitskräfte braucht. In den Gefängnissen gibt es Fabriken, in denen die jungen Leute dann harte Arbeit leisten müssen. Sie bekommen dafür nur einen Monatslohn von ein paar Cents bis zu wenigen Euro. Die Jugendlichen werden sehr schlecht behandelt und gefoltert, sie hungern und frieren. Es gibt viele Selbstmorde im Gefängnis, weil die jungen Menschen verzweifelt sind. Wir bezeichnen die Zustände als Sklaverei. In diesen Fabriken werden hochwertige Waren, etwa Möbel, hergestellt, die in 21 Länder exportiert werden, auch nach Deutschland.
Was tut ihre Organisation gegen diese Verhältnisse?
Wir unterstützen die Eltern dabei, die Gerichtsurteile anzufechten, und wir kämpfen für bessere Verhältnisse in den Gefängnissen. Wir betreuen zurzeit 36 Familien. In einem Fall konnten wir schon eine Strafminderung erreichen: Die Strafe für Emil Astrauko, der als Minderjähriger nach Artikel 328 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und für den sich auch Amnesty International eingesetzt hat, wurde auf acht Jahre reduziert. Unser Hauptanliegen aber ist eine Amnestie. Lukaschenko hat vor, am 3. Juli, zum 75. Jahrestag der Befreiung von Minsk im Zweiten Weltkrieg, Amnestien zu erlassen. Wir fordern, dass möglichst viele 328-Kinder berücksichtigt werden.
Im Mai waren Sie in Deutschland. Warum?
Wir wollen auch hier Öffentlichkeit für die Situation in Belarus schaffen. Lukaschenko braucht wegen der Wirtschaftskrise dringend Geld. Von Russland kann er nicht viel erwarten, denn das Land hat selbst Probleme wegen der EU-Sanktionen. So versucht er, Geld von der EU zu erhalten. Da passt es natürlich nicht ins Konzept, wenn in der Öffentlichkeit über Menschenrechte gesprochen wird. Außerdem finden vom 21. bis 30. Juni in Belarus die Europaspiele statt. Auch das ist eine gute Möglichkeit, mehr Aufmerksamkeit auf die Menschenrechtslage zu lenken. Wir werden eine große Kampagne starten. Die Mütter der 328-Kinder etwa wollen in den Hungerstreik treten.
Wie ist es, sich in Belarus für die Menschenrechte einzusetzen?
Die Menschenrechtslage in unserem Land ist sehr, sehr schlecht. Kunst- und Medienschaffende werden verfolgt, und es gibt keine unabhängigen Rechtsbeistände. Ich kann mich kaum erinnern, wie oft ich schon eingesperrt wurde. Sie haben versucht, mir meine Kinder wegzunehmen, man hat mir Vergewaltigung angedroht, mich gefoltert und mir zeitweise Terrorismus vorgeworfen, worauf die Todesstrafe steht. Sie müssen wissen: Belarus ist ein sehr patriarchales Land, und Lukaschenko gibt sich als der große Vater des Landes. Er missbraucht seine Position. Paragraf 328 ist für ihn die Möglichkeit, das Leben anderer in seinen Händen zu halten. Er kann Menschen das Leben schenken – oder sie töten.
Interview: Stefan Wirner
Weitere Informationen:
Anlässlich der am 21. Juni 2019 beginnenden Europaspiele in Minsk informiert Amnesty International in einem dreiseitigen Pressebriefing über die Menschenrechtslage in Belarus und spricht Empfehlungen an die Europäischen Olympischen Komitees aus. Das Papier kann hier heruntergeladen werden: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-06/Amnesty-Pressebriefing-Belarus-Europaspiele-Juni2019.pdf