Nach der Wahl wurde die feindliche Haltung der „Regierung“ gegenüber der weiß-rot-weißen Fahne besonders deutlich. Die Belarus:innen reagierten daraufhin auf ihre eigene Art: weiße und rote T-Shirts, Handtücher und Unterwäsche waren auf einmal auf Balkonen zu sehen, aufgehängt in der farblichen Reihenfolge der Fahne, als Zeichen des Protests. Die Reaktion der „Regierung“ folgte sofort: der Kleidung in „Oppositionsfarben“ wurde der Krieg erklärt.
Die ersten Fotos weiß-rot-weißer Unterwäsche auf Balkonen der Belarusen erschienen bereits im August. Am 29. August postete die Twitter-Nutzerin @__C3PO_ ein Bild von weiß-rot-weißen Unterhosen auf ihrem Balkon. Die Abonnenten reagierten ausgelassen, einer markierte sogar den Twitter-Account des Notstandsministeriums und kommentierte: „Kommt raus, da ist Weiß-Rot-Weiß“[1]. Ob Ministeriumsvertreter tatsächlich dorthin kamen, ist nicht bekannt.
Ein weiteres Foto mit weiß-rot-weißer Unterwäsche erschien ein paar Tage später, am 6. September, auf dem Twitter-Account der belarussischen Dichterin Valzhyna Mort.
Im Kommentar zu dem Bild der nebeneinander hängenden weiß-rot-weißen BHs schrieb sie: „Das sind die Farben der historischen belarussischen Fahne, die durch die sowjetische Fahne ersetzt wurde. Obwohl sie nicht offiziell verboten ist, können Sie für das Tragen dieser Farben verhaftet werden. Rot und Weiß sind die Nationalfarben: Ein rotes Muster auf weißem Grund“[2].
Eine der bemerkenswertesten Abschnitte dieser Konfrontation war der Kampf der Silowiki mit Unterhosen (ja wirklich) im Minsker Wohnkomplex „Kaskad“. Hier ein kurzer Überblick über die Ereignisse dieses „Kriegs“.
Die Nachricht über weiß-rot-weiße Unterhosen, die über dem Wohnkomplex „Kaskad“, direkt gegenüber der Verkehrspolizei, schwebten, erschien zuerst im Telegramm-Kanal „ Kaskad Live“ am 9. November. Es wurde erzählt, dass die Unterwäsche von Hand genäht wurde, jedes Stück erreichte drei Meter in der Breite[3]. Zuvor hatten die „Kaskad“-Bewohner mehrere Monate lang riesige weiß-rot-weiße Fahnen im Hof aufgehängt. Jedes Mal kam die Polizei, um sie abzunehmen. Diesmal hingen die Unterhosen 24 Stunden.
An diesem Tag berichtete der Telegram-Kanal „Kaskad Live“ über Anrufe mit der Bitte, die Unterhosen zu entfernen. Interessanterweise riefen nicht einfache Bürger bei der Polizei an, sondern die Verwaltung des Frunzensky-Bezirks bei einer Abteilung des Sondereinsatzkommandos.
„Doch selbst die begriffsstutzigsten Beamten weigerten sich, dies zu tun, weil sie fürchteten, sich für den Rest des Lebens vor ihren eigenen Kollegen zu blamieren“[4], erklärte der Telegram-Kanal.
Am 10. November traf eine Truppe aus fünf OMON-Polizisten, dazu Kräfte des Sondereinsatzkommandos, in „Kaskad“ ein. Sie kletterten auf das Dach und versuchten, mit einem großen Haken das Seil mit den Unterhosen zu entfernen, das auf Höhe eines der oberen Stockwerke hing. Den Mietern einer der Wohnungen gelang es jedoch, die Unterhosen zu retten, indem sie die Leine durch das Fenster wieder ins Haus hineinzogen. So gingen die Silowiki leer aus, und am nächsten Tag hingen die Unterhosen wieder an der gleichen Stelle[5].
Das nächste Mal überraschten die Silowiki jedoch den Wohnkomplex am 12. November. Morgens trafen Kleinbusse in „Kaskad“ ein, und die Silowiki verteilten sich in den mehrstöckigen Gebäuden.
„Sie brachen gleichzeitig in mehrere Wohnungen in unserem Haus ein und führten Durchsuchungen durch, die sehr lange dauerten. Sie versprachen, niemanden festzunehmen, aber am Ende nahmen sie dann doch eine Frau mit. Wenig überraschend wurden unsere Nachbarn nicht als Zeugen zugelassen: Sie hatten ihre eigenen Zeugen, die wir nicht kannten“, sagte ein Anwohner[6].
Bezeichnenderweise suchten die Behördenmitarbeiter speziell dann die Mieter als Zeugen aus, die bei der Wahl als Beobachter tätig waren.
Gegen 11 Uhr konnten die Anwohner zusehen, wie die Silowiki die über dem Wohnkomplex hängenden Unterhosen abnahmen. Die Beute haben sie dann mitgehen lassen[7].
Eine ähnliche Unterhosen-Aktion hatten zum selben Zeitpunkt die Bürger von Vitsebsk veranstaltet. Am 10. November postete der Telegramm-Kanal „Vitebsk unglaublich“ ein Foto mit weiß-rot- weißen Unterhosen, die auf einem Seil zwischen den Bäumen hingen. „Vitebsk weiß, wie man Wäsche trocknet“, lautete die Bildunterschrift[8].
Und Facebook-Nutzer teilten ihre kreativen „Einzelproteste“ mit der Unterwäsche in den Kommentaren des Beitrags über die weiß-rot-weißen Unterhosen. Zum Beispiel veröffentlichte Tatiana Mukhina am 9. November ein Selfie vor dem Hintergrund von BHs in den Farben der Fahne und schrieb dazu: „Die Heimat ruft“.
Am 6. Dezember beschlossen die Bewohner des Wohnkomplexes „Arcadia“, den Flashmob von „Kaskad“ nachzuahmen, nur dass sie statt Unterhosen riesige weiß-rot-weiße Socken aufhängten. Ein Foto davon erschien im Telegram-Kanal des Portals Onliner. Es ist nicht bekannt, ob auch dieses Mal das Sondereinsatzkommando gerufen wurde[9].
Tatsächlich hat die Generalstaatsanwaltschaft von Belarus am 29. Januar mit der Prüfung eines Antrags begonnen, die weiß-rot-weiße Flagge als extremistisch einzustufen. Eingereicht wurde der Antrag von einer „Bürgerinitiative“. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, dass sie „derzeit Unterlagen vorbereitet, um die weiß-rot-weiße Flagge und sonstige Symbolik für extremistisch zu erklären.“
Nach Meinung des Historikers Aliaksandr Pashkevich können auch weiß-rot-weiße Unterhosen und Socken als „sonstige Symbolik“ betrachtet werden: „Ich glaube, sie werden versuchen, es auf irgendeine schlaue Art und Weise in einem Gesetz oder einer Verordnung festzuschreiben, dass auch das Aufhängen von bunten Unterhosen auf dem Balkon in einer bestimmten Reihenfolge und das Tragen von Hosen mit weiß-rot-weißen Streifen als Straftat gelten würde.“
[1] https://twitter.com/__C3PO_/status/1299742412059934720
[2] https://twitter.com/ValzhynaMort/status/1302375094367465479
[3] https://news.tut.by/society/707172.html
[4] https://t.me/kascadlive/531
[5] https://reform.by/178990-v-zhk-kaskad-siloviki-proveli-operaciju-po-snjatiju-bchb-trusov
[6] https://realt.onliner.by/2020/11/12/moment-dialoga-s-silovikami-priexavshimi-v-kaskad-s-obyskami
[7] https://www.youtube.com/watch?v=3ZSq6rrUs6w