Am 13. September fand in Brest ein Protestmarsch statt, an dem etwa 4000 Menschen teilnahmen. An der Kreuzung des Masherov Prospekts und der Allee der Kosmonauten stellten sich die Menschen zu einem Rundtanz auf, sangen Lieder und tanzten. Daraufhin wurde die Bewegung gestoppt. Die Protestierenden wurden mit Wasserwerfern auseinander gejagt, gegen sie wurden Strafverfahren eingeleitet, die nach wie vor am Laufen sind.

Was am 13. September geschah:

An diesem Tag versammelten sich die Protestierenden gegen 14.30 Uhr am Denkmal zum 1000jährigen Jubiläum der Stadt. Hier standen die Demonstranten mit Flaggen und riefen „ Жыве Беларусь | Es lebe Belarus“. Dann machten sie sich wie eine Kolonne auf den Weg entlang der Sovetskaja-Straße in Richtung Mayakowsky-Straße. Meistens ging man dann zum Lenin Platz, doch dieses Mal ging es weiter zum Masherov Prospekt. Dort gingen die Demonstranten auf die Straße und machten sich auf in Richtung der Kobryn-Brücke. An der Kreuzung zum Boulevard der Kosmonauten hielten die Demonstranten an und begannen zu skandieren: „Das ist unser Platz“. Der Platz war dadurch blockiert, es konnten keine Autos über die Kreuzung fahren und auch der Öffentliche Personennahverkehr kam zum Erliegen.

Die Demonstranten stellten sich zum Rundtanz auf, begannen, Protestlieder zu singen und tanzten. Das dauerte etwa 40 Minuten an, bis dann, gegen 17 Uhr, Wasserwerfer eintrafen. Infolgedessen liefen die Menschen auseinander. Das Spezialfahrzeug spritzte Wasser auf die Straße, als sei sie ein Blumenbeet, zielte auf die Demonstranten und fuhr wieder weg.[1]

 

Der Verlauf der Ermittlungen

Das Innenministerium erklärte, dass „etwa 1000 Menschen in der Mitte der Kreuzung Rundtänze durchführten, Lieder sangen und verschiedene Parolen schrien. Mit ihrer Aktion blockierten die Teilnehmer der nicht genehmigten Massenveranstaltung die Bewegung des Öffentlichen Personennahverkehrs und waren dadurch eine ernsthafte Bedrohung für die Verkehrssicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer“.[2]

Am 15. September wurde ein Strafverfahren nach §1 Abs. 342 des Strafgesetzesbuches eingeleitet – „der Organisation von Gruppenaktivitäten, welche grob die öffentliche Ordnung verletzen in Verbindung mit klarem Ungehorsam gegenüber den gesetzlichen Forderungen von Regierungsbeamten oder einer damit verbundenen Behinderung des Betriebes von Verkehrsmitteln, Unternehmen, Institutionen oder Organisationen oder einer aktiven Teilnahme an solchen Handlungen bei Abwesenheit von Anzeichen einer schwerwiegenderen Straftat.“ Zur Ermittlung wurde eine Gruppe von 14 Ermittlern anberaumt. Ermittelt wurde gegen all diejenigen, die anhand von Fotos identifiziert werden konnten, welche mit einer Videoüberwachungskamera aufgenommen wurden.[3]

Den Daten der Ermittlung zufolge kam es von 16.20-17.45 Uhr entlang des Masherov Prospekts von der Lenin Straße bis zur Kobryn-Überführung zu Verkehrsbeeinträchtigungen in Folge des „Rundtanz-Falls“; von 16.45-17.20 entlang des Boulevard der Kosmonauten von der Budjonny-Straße bis zum Masherov Prospekt, entlang des Shevchenko Boulevards vom F. Skoryna Ufer bis zum Masherov Prospekt. Die Bewegung der Autobusse des “Trolleybuspark“ kam ebenfalls zum Erliegen, wodurch die Gesamtzeit des Ausfalls 29 Stunden betrug. Die Fortbewegung der Autobusse wurde gestoppt und zwei Fahrten des Städtischen Busbetriebs OAO „Brest Autobus Park“ mussten abgebrochen werden, wodurch die Gesamtzeit des Stillstands mehr als 5 Stunden betrug und mehr als 26km Strecke nicht befahren wurden. Zudem wurde die Fortbewegung von zwei Express-Autobussen des städtischen Personenverkehrs im regulären Verkehr für 5 Minuten gestoppt. [4]

Der voraussichtliche Schaden auf Grund des Stillstands beträgt 619 Rubel und 55 Kopeken für den Trolleybuspark und 40 Rubel und 37 Kopeken für den Busbetrieb OAO.

Schon am 28. September wurden etwa 20 Personen in dem Fall angeklagt. Die Sicherheitsbehörden erklärten jedoch, dass deren Anzahl sich auf bis zu 200 erhöhen könnte. Bis zum 21. September waren mehr als 50 Personen in den Fall verwickelt – 19 als Verdächtige, 37 als Angeklagte. Die ersten zehn Angeklagten wurden am 20. Januar vor Gericht gestellt, die zweiten zehn Angeklagten am 15. Februar.

Am 30. Dezember übermittelte die Staatsanwaltschaft dem Gericht  Unterlagen des Strafverfahrens gegen eben jene erste 10 Einwohner von Brest, die gemäß § 1 Art. 342 des Strafgesetzbuches angeklagt wurden.[5] Am 25. Januar trat das Gericht dann das weitere Strafverfahren zu den Unruhen am Masherov Prospekt und dem Boulevard der Kosmonauten ein, in welchem die zweiten 10 Personen angeklagt wurden.[6]

Angeklagte und Verdächtige im „Fall des Rundtanzes“

Am 23. September wurde eine Verdächtige im „Rundtanz-Fall“ festgenommen – die 25jährige Lehrerin Marina Glasowa. Sie wurde zu einem Gespräch in die Leniner Bezirksabteilung für Innere Sicherheit vorgeladen, danach musste sie vor einen eingerichteten Untersuchungsausschuss aussagen. Infolgedessen landete sie zuerst in einer Strafanstalt, dann in Untersuchungshaft. Marinas Wohnung wurde durchsucht. Ihren Eltern wurde mehr als einen Monat lang ein Treffen mit ihrer Tochter untersagt.[7] Am 7. Oktober wurde Marina als politische Gefangene anerkannt und im November entlassen, aber unter Hausarrest gestellt.

Am 27. Oktober wurde die 63jährige Aktivistin Elena Gnauk zur Verdächtigen im „Rundtanz-Fall“ ernannt. Die Anklage nach §1 Art. 342 des Strafgesetzbuches folgte dann im Januar – das entsprechende Dokument wurde der Aktivistin am 15. Januar in der Abteilung des Ermittlungsausschusses in Brest übergeben.

„Ich denke nicht, dass der Ausdruck unserer Position durch einen Tanz eine Straftat darstellt“[8] meint Elena Gnauk.

Am Abend des 16. November fand in der Wohnung des Brester Aktivisten Viktor Klimus eine Hausdurchsuchung statt – auch er gilt als Verdächtiger im „Rundtanzfall“. Von seiner Einstufung als Verdachtsfall erfuhr er zwei Wochen zuvor – als er bei seinen Eltern und dem Schwiegervater gesucht wurde. Bei der Durchsuchung bei Viktors Familie wurden zwei weiß-rot-weiße Flaggen und ein alter Computer mitgenommen.[9]

Am 30. November wurde der Dichter und Bienenzüchter Nikolai Popeka aus dem Dorf Linovo im Pruzhany Distrikt verhaftet. Bekannte erzählten: Nikolai fuhr oft nach Brest, um einen seiner Söhne zu besuchen. In der Leniner Bezirksabteilung für Innere Sicherheit befragte man ihn im Zusammenhang mit dem „Rundtanz-Fall“. Er weigerte sich, gegen sich selbst auszusagen und forderte, dass das Protokoll in belarussischer Sprache geführt werden soll. Nikolai Popeka musste 3 Tage in Untersuchungshaft verbringen.[10]

Ebenfalls zu Verdächtigen wurde das 32jährige Ehepaar Andrei und Polina Leshko. Am 13. September befanden sie sich in der Nähe des Geschehens. Sie wurden auf Grund von Fotos in den lokalen Medien und anderer Menschen in sozialen Netzwerken in den Fall verwickelt und auch auf Videos identifiziert. Am 21. September wurde Polina in dem Staatsunternehmen gesucht, wo sie bis zu ihrem Schwangerschaftsurlaub gearbeitet hatte. Am selben Tag wurde sie ohne die Anwesenheit eines Anwalt befragt, wobei die Befragung in grober Form ablief. Wegen der Verdächtigung verlor Andrei – der Alleinverdiener der Familie – sein Einkommen. Er war als LKW-Fahrer für internationale Transporte tätig, doch nun wurde ihm die Ausreise untersagt. Das Paar hat zwei minderjährige Kinder zu versorgen.

Details der Gerichtsverhandlung

Die erste Gerichtsverhandlung zum „Rundtanzfall“ fand am 20. Januar statt. An diesem Tag wurde den ersten zehn Angeklagten der Prozess gemacht, darunter auch Marina Glasowa. Das Alter der Angeklagten betrug zwischen 20 und 38 Jahren. Unter ihnen waren neben der Lehrerin zwei IT-Spezialisten,  zwei Lastwagenfahrer, der Geschäftsführer eines Privatunternehmens, der Schichtleiter eines Handelsunternehmens, ein Bankangestellter, ein vorübergehend Arbeitsloser und ein Philologie-Student der an der Staatlichen Belarussischen Universität studierte.

Nikolai Fedorenko, Mitarbeiter eines Handelsunternehmens, trafe sich an diesem Tag mit einem Freund in einem Cafe an der Kreuzung der Straßen Karbyshev and Mitskevych aus. Die Gruppe der Demonstranten zog an ihnen vorbei. Er entschied sich, mit ihnen zu laufen. Als die Leute an die Kreuzung der Masherov Straße und des Boulevard der Kosmonauten kamen und zu tanzen begannen, hielt er sich abseits. Er erinnerte sich: Es herrschte fröhliche Stimmung, die Leute sangen Lieder, lachten, klatschten in die Hände. Es gab nichts Negatives. Doch obwohl Nikolai sich abseits des Tanzes hielt, wurde er trotzdem zum Angeklagten.

Der Lastwagenfahrer Vitali Litvin schloss sich der Aktion aus Interesse an – der Umzug erinnerte an einen Feiertag, wovon es in der letzten Zeit in der Stadt keine gegeben hatte. Er hielt sich in einem der Bereiche des Tanzes auf, dachte aber nicht, dass dies den Verkehr irgendwie beeinträchtigen würde.

„Es war so ähnlich wie Karneval. Alle haben sich gefreut, es gab nichts Negatives. Im Gegenteil – nur Unterstützung, gute Stimmung, Lächeln“ erinnert sich Vitali.

Yaroslav Yaroshuk erfuhr über Telegramm von der Protestaktion. Als die Demonstranten anhielten, überquerte er die Kreuzung und stand auf dem Bürgersteig, fing an zu rufen und in die Hände zu klatschen.

„Ich habe keine radikal eingestellten Menschen gesehen, die Leute haben nicht davon gesprochen, Barrikaden zu errichten, keine bösen Parolen geschrien. Die Leute haben selbst dafür gesorgt, niemanden zu stören. Sie haben sich bemüht, sich zusammenzudrängen. Ich habe nichts getan, womit ich irgendjemandem hätte schaden können“ erzählt Yaroslav.

Yevgeny Kolpachik war an diesem Tag auch im Zentrum: er trank einen Kaffee, sah die Menschenmenge und schloss sich ihr an. An der Allee der Kosmonauten hielt die Kolonne, er überquerte die Straße und sah die Autos der Verkehrspolizei.

„Ich dachte, das alles sei erlaubt und ging auf die Straße herunter. Ich sah den Rundtanz. In der Nähe davon war ich nicht, sondern etwa 15-20 Meter entfernt. Ich klatschte, weil Musik gespielt wurde. Als ich Sirenen hörte, entfernte ich mich und ging nach Hause“ sagte der Angeklagte vor Gericht.

Viktor Denisenko stand vor dem Zentralen Einkaufszentrum, als er die Demonstranten sah. Er wollte über die Sovetskaya Straße gehen, entschied sich aber dagegen und ging in die andere Richtung. Als er sah, dass sich die Menge näherte, entschied er, mit ihnen bis zur Haltestelle zu gehen. Am Masherov Prospekt sah er den Wasserwerfer und ging zur nächsten Haltestelle, dort wurde er festgenommen.

Maksim Zharov wurde ebenfalls am 13. September verhaftet. Er schloss sich dem Protestzug der Protestierenden an und ging bis zur Kreuzung mit, erklärte aber, dass er sich nicht am Rundtanz beteiligte, nicht klatschte, keine Parolen rief und bald nach Hause ging.

Im Verlauf der ersten Verhandlung bekannten sich vier von den zehn auf der Anklagebank Befindlichen vollständig schuldig. Weitere vier stritten die Schuld ab. Zwei bekannten sich teilweise schuldig.[11]

Auf der Sitzung am 15. Februar hörte das Gericht die zweiten zehn Angeklagten an. Zu ihrer Unterstützung erschien u.a. der Musiker Yuri Stylsky von der Gruppe „Daj Darogu“.

Aleksei Artetsky erzählte, dass er aus Neugier herankam, um dem Rundtanz zuzusehen. Er stand mit einer Flagge auf einer Fahrbahn, rief aber auch keine Parolen. Dann rollte er die Flagge ein und ging in ein Geschäft. Die staatliche Anklage und der Richter hoben die Frage hervor, ob er die Arbeit des Geschäfts, des Kiosks, beeinträchtigte, worauf Aleksei antwortete, dass er Zigaretten und Wasser kaufte.

Dmytry Kachursky erzählte, dass die Demonstrierenden sich zu den Parolen „Es lebe Belarus“ und „Das ist unsere Stadt“ auf den Bürgersteigen und auf Teilen der Fahrbahn bewegte. Er bekräftigte, dass Geschäfte weiter arbeiteteten, das heißt, dass die Protestierenden sie nicht aktiv störten.

Ein weiterer Angeklagter, Dmytry Bunevych, war mit seinem Bruder auf dem Rückweg von einem Besuch, als der Bus anhielt und der Fahrer sagte, dass die Fahrt nicht weiter geht. Sie stiegen aus dem Bus aus, fotografierten sich mit der Menschenmenge im Hintergrund und in diesem Moment kam der Wasserwerfer.

Einige der Angeklagten wurden gefragt, ob ihnen Geld dafür angeboten wurde, dass sie am Rundtanz teilnahmen. Sergei Nalyvko verneinte das und bekräftigte, dass die Verkehrspolizei die Leute nich0 erst darum gebeten hatte, die Bürgersteige zu verlassen oder dazu aufrief, sich zu zerstreuen. Übrigens erklärten sogleich mehrere Angeklagte, dass sie nicht wussten, dass sie sich zerstreuen sollten und dass ihre Handlungen die öffentliche Ordnung störten, da niemand sie vorwarnte. Zugleich bekannten alle, dass es falsch fahr, auf die Fahrbahn zu gehen.

Die Angeklagte  Valentina Zhukovskaya richtete die Aufmerksamkeit besonders darauf, dass das Betreten der Fahrbahn und der Rundtanz auf der Kreuzung nicht als Verstoß gelten:

„Dass das ein grober Verstoß gegen die Ordnung sein sollte, verstehe ich noch nicht. Für mich sind das Verprügeln von Menschen oder eingeschlagene Scheiben ein grober Verstoß. Der 13. September fühlte sich an wie ein Feiertag.

Von den zehn Angeklagten bekannte sich nur einer vollständig schuldig.[12]

[1] https://news.tut.by/society/700306.html

[2]https://www.belta.by/incident/view/v-breste-okolo-tysjachi-chelovek-zablokirovali-dvizhenie-transporta-406563-2020/

[3]http://spring96.org/ru/news/100115

[4]https://news.tut.by/society/712153.html

[5]https://reform.by/191086-delo-o-horovodah-v-breste-napravili-v-sud

[6]https://reform.by/196644-v-sud-napravleno-eshhe-odno-delo-o-horovodah-v-breste

[7]https://vb.by/society/people/osennyaya-pochta-v-sizo-25-letnyaya-uchitelnicza-marina-glazova-bolshe-mesyacza-nahoditsya-pod-strazhej.html

[8]https://naviny.online/new/20210117/1610892336-brestskaya-pensionerka-elena-gnauk-stala-figurantom-ugolovnogo-dela-o

[9]https://onlinebrest.by/novosti/brestskiy-aktivist-viktor-klimus-yavlyaetsya-figurantom-ugolovnogo-dela-za-horovod-na-perekrestke.html

[10]https://nn.by/?c=ar&i=264722&lang=ru

[11]https://1reg.by/2021/01/20/v-breste-10-chelovek-sudyat-po-horovodno-vodometnomu-delu-onlayn/

[12]ttps://1reg.by/2021/02/15/delo-o-horovode-na-perekrestke-v-breste-sudyat-vtoruyu-desyatku-onlayn/

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