Im Jahr 2014 wurde das Dekret Nr. 6 „Über dringende Maßnahmen zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels“ verabschiedet. Gemäß diesem Dekret wurde das Alter, in dem man für Vergehen in Verbindung mit Drogen zur Verantwortung gezogen werden konnte, auf 14 herabgesetzt. Die Auslegung der Bestimmungen dieses Dekrets durch die Strafverfolgungsbehörden führte zu Verstößen gegen die Rechte von Minderjährigen durch Mitarbeiter des Untersuchungsausschusses, der Staatsanwaltschaft und der Justiz.

Wie Kinder für die Organisation von Drogenbanden inhaftiert werden

Seit dem Inkrafttreten des Dekret Nr. 6 kam es zu massiven Repressionen gegen junge Menschen – teilweise wurden ihnen Dinge angelastet, die sie nie getan hatten. Alexander Lukashenko regte an, für diejenigen, die Strafen wegen Verbrechen in Zusammenhang mit Drogen verbüßten, Bedingungen zu schaffen, „dass sie um den Tod betteln“. Er meinte, wenn es viele solcher Verbrecher im Land gäbe, „lasst uns eines der Arbeitslager für sie reservieren“. Tatsächlich wurde die Strafkolonie Nr. 22 namens „Wolfslöcher“ speziell für Straftäter in Verbindung mit Drogendelikten ausgerichtet. In anderen Strafkolonien wurden Abteilungen extra für Verurteilte nach Art. 328 eingerichtet. Sie wurden mit grünen Streifen gekennzeichnet.

Statistischen Daten zufolge, die von Menschenrechtlern in Belarus erhoben wurden, nahmen Urteile gegen „organisierte verbrecherische Banden“ stark zu. Um Statistiken, Auszeichnungen und Titel zu verbessern, haben Mitarbeiter der internen Gremien Amtsverbrechen und Disziplinarverstöße begangen. Wegen der enormen Menge der ins Land eingeführten Drogen und Psychopharmaka war die Mehrheit der verurteilten Jugendlichen entweder in Drogenhandel verstrickt oder wurde Opfer provozierter Handlungen.

Hunderte junger Menschen, die nach § 4 Art. 328 des Strafgesetzbuches verurteilt wurden, sind Minderjährige. Doch sie sind keine gewalttätige Verbrecher, und werden ungerechtfertigterweise als „besonders gefährlich“ eingestuft. In so jungem Alter in eine Strafkolonie zu geraten, ist zudem besonders schrecklich. Die junge, noch nicht gefestigte Psyche leidet mit jedem Tag in der Kolonie mehr. Die Strafkolonien, welche im Russischen wörtlich übersetzt „Korrekturanstalten“ heißen, sollen zur Rehabilitation beitragen, doch solche Strafen zerstören die Persönlichkeit der Menschen und nehmen ihnen die Möglichkeit, je wieder ein normales Leben zu führen.

Anwälte, Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft und Vertreter des Obersten Gerichtshofs versichern, dass zur Qualifizierung eines Verbrechens nach  § 4 Art. 328 alle fünf Anzeichen einer organisierten kriminellen Vereinigung bestätigt werden müssen.  In der Praxis ziehen Richter Jugendliche jedoch bereits wegen einer Kontaktaufnahme mit einer „nicht identifizierten Person“ aus einem Online-Shop zur strafrechtlichen Verantwortung gemäß § 4. Das Internet wurde zur hauptsächlichen Grundlage der Beschuldigung nach § 4 Art. 328.

Amnestie, aber nicht für alle

Im Jahr 2019 kam Verurteilten nach den Paragrafen 1-3 Art. 328 eine Milderung der Gesetzeslage zugute (die Untergrenze wurde um 2 Jahre reduziert). Zudem kam es zur Anwendung einer Amnestie Minderjähriger (minus 2 Jahre). Doch 2020 wurde die Amnestie in allen Paragraphen von Art. 328 nur für Minderjährige angewendet (minus 1 Jahr). Kindern, die eine Strafe nach §1-2 des Artikels 328 verbüßten, wurde die Strafe um 5 Jahre reduziert, aber Kindern, die nach § 4 ihre Strafe verbüßten, nur um 1 Jahr. Was müssen Jugendliche empfinden, die noch nicht vollends verstehen, inwiefern sich ihre Vergehen von denen nach den Artikeln 1-3 unterscheiden?  Darüber hinaus gibt es in identischen Situationen keine einheitliche Abgrenzung der Straftaten.

Keiner der Jugendlichen, die nach Artikel 328 des Belarussischen Strafgesetzbuch verurteilt wurde, hat ein „Drogengeschäft“ aufgebaut, war dessen Gründer und konnte erkennen, dass er sich mit einer Nachricht in einem Messengerdienst einer „organisierten kriminellen Gruppe“ anschloss. Ebenso hatte keiner der Minderjährigen Verbindung zu den  Laboren und stellte dementsprechend weder Drogen her, noch führten sie sie ins Land ein. Die Jugendlichen wurden nur aus Naivität und jugendlichem Leichtsinn in die Drogenkriminalität verwickelt.

Jugendliche ohne entsprechende Beweise nach § 4 Art. 328 des Belarussischen Strafgesetzbuches zu verurteilen zeugt von einer geringen Qualifikation und Inkompetenz der Richter, die die Urteile sprechen. Sie zeigen damit, dass sie keinen Unterschied zwischen einem Drogenboss (der „nicht identifizierten Person“) und einem Kurier sehen.

Wie der Artikel 328 die Rechte der Kinder verletzt

Es muss darauf hingewiesen werden, dass die gesetzliche Grundlage für die Rechte von Kindern in unserem Land sich zusammensetzt aus dem Gesetz „Über die Rechte des Kindes“ in der Verfassung der Republik Belarus, der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen „Kinderrechtskonvention“, welche auch von Belarus unterzeichnet und ratifiziert wurde und den „Mindeststandards der Vereinten Nationen betreffs der Verwaltung der Gerichtsbarkeit Minderjähriger“ (Peking-Regeln) und anderen internationalen Abkommen. Gemäß dieser Dokumente muss das oberste Ziel der Gerichtsbarkeit Minderjähriger die Sicherstellung ihres Wohlergehens und die Beschränkung der Anwendung von Strafmaßnahmen sein. Maßnahmen zur Einflussnahme auf jugendliche Straftäter sollten sowohl den Umständen der Straftat als auch der Persönlichkeit des Kindes angemessen sein, das mit dem Gesetz in Konflikt geriet.

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Kinder nicht in gleicher Weise wie Erwachsene zur Verantwortung gezogen werden dürfen. Die Inhaftierung an Orten des Freiheitsentzugs sollte nur die äußerste Maßnahme sein, wenn bereits alle alternativen Möglichkeiten ausgeschöpft sind (gemeinnützige Arbeit, Verwaltungsstrafe, Bewährungsstrafe, Aufschub des Strafvollzugs etc.)

In unserem Land wird der Status des Kindes gesetzlich bis zum 18. Lebensjahr angesetzt. Und unabhängig davon, wie das auf uns wirkt, dass kein Unterschied zwischen einem 17jährigen und einem 11jährigen Menschen oder einem 18jährigen und einem 1monatigen gemacht wird – die Grenze ist so festgeschrieben. Und dieser Status verlangt einen zusätzlichen Schutz durch die Kinderrechtskonvention. Daher ist es nötig Änderungen vorzunehmen, um das gesetzlich strafbare Alter nach Artikel 328 von 18 Jahren wiederherzustellen.

Als Ergebnis der Prüfung einer Klage über die Verletzung der Rechte Minderjähriger im Rahmen der Strafverfolgung nahm die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen am 24. April 2020 die Stellungnahme Nr. 60/2019 zu vier Minderjährigen an. Die Arbeitsgruppe kam zu dem Schluss, dass die Inhaftierung von drei von ihnen (V. Sharkovsky, E. Ostrovko, M. Bloshuk) willkürlicher Natur war und ihre Rechte verletzte und die Staatsorgane sie unverzüglich freilassen und ihnen eine Entschädigung zahlen müssen. Diese Kinder befinden sich jedoch bislang weiterhin hinter Gittern.

Und zu guter Letzt: Während die Jugendlichen wegen der „Organisation einer kriminellen Bande“  Haftstrafen von 8 bis 10 Jahren verbüßen, sind zwei stellvertretende Staatsanwälte des sowjetischen und des Leninsky-Bezirks von Minsk gemäß Artikel 328 Teil 1 (Kauf von Drogen zum Zwecke des Verkaufs) angeklagt. Der KGB, der in der Sache ermittelt, gibt nicht an, dass die Medikamente mit behördlichen Befugnissen erworben wurden. Die Anwendung des Artikels 328 ermöglicht deswegen die Verhängung einer Strafe in Form der Freiheitsbeschränkung (einschließlich des Aufenthalts in der eigenen Wohnung). Aber nach dem Amnestiegesetz von 2019 werden sie wahrscheinlich freigelassen …

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