Im Februar ist eine der „328-er Mütter“ verstorben –  Marina Tchepko. Sie hinterlässt ihren Sohn Milad, der gerade im Gefängnis eine mehrjährige Strafe absitzen muss. Die Staatsanwaltschaft, sie hätte wohl kaum unmenschlicher sein können, verwehrte ihm, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Milad durfte trotz eines Antrags der „328-er Mütter“ das Gefängnis nicht für die Beerdigung verlassen.

Der stellvertretende Leiter der Abteilung für Strafvollstreckung und Leiter der Verwaltungsabteilung – Ivan Myslitsky – erklärte, dass der Verurteilte selbst und der Leiter des Gefängnis eine Entscheidung darüber fällen würden, ob er das Gefängnis für eine Beerdigung verlassen darf. Er wies darauf hin, dass Verstöße gegen Artikel 328 (Besitz und Verkauf von Drogen) als besonders schwerwiegend angesehen werden, weshalb der Gefangene höchstwahrscheinlich nicht freigelassen wird, um sich von seiner Mutter verabschieden zu können.[1]

Einen ähnlichen Fall musste 2019 Maxim Tchasheney durchlleben, der ebenfalls wegen einem Verstoß gegen Artikel 328 eine Haftstrafe verbüßte. Seine Mutter verstarb, und die „328-er Mütter“ wendeten sich an das Gefängnis „Wolfshöhle“, in der sich Maxim befand, mit der Bitte, ihn für die Beerdigung herauszulassen. Die PK-22-Spezialistin Machnevych nahm den Hörer ab. Als sie hörte, mit welcher Bitte man sich an sie wendete, fing sie nur an zu lachen.

„Versteht ihr, dass das absurd ist?“ fragte sie die anrufende Aktivistin. Darauf antwortete die Vertreterin der „328-er Mütter“, dass es eine solche Möglichkeit schon immer gegeben habe und eine kurzzeitige Entlassung nach den internen Vorschriften zulässig sei. Die Mitarbeiterin des Gefängnis entgegnete nur, dass Häftlinge nie zu Beerdigungen herausgelassen würden.[2]

Tatsächlich ist diese Praxis, Gefangene die Teilnahme an der Beerdigung der ihnen nahestehenden Personen zu verwehren, schon Normalität geworden. Nur bisher nicht für die nach Artikel 328 verurteilten Jungen und Mädchen, sondern für politisch Gefangene. Also zeigt des Staat noch etwas dadurch: Der Artikel 328 ist voll und ganz politisch motiviert.

Valery Levonevsky

Ein ähnlicher Fall geschah 2006, als Valery Levonevskys Vater, der Vorsitzende des Nationalen Streikkomitees der Unternehmer und Mitglied des Rates der zivilen Initiativen „Freies Belarus“, verstarb. Valery durfte nicht an der Beerdigung teilnehmen – seit 2004 befand er sich gemäß Artikel 368 des Strafgesetzbuchs im Gefängnis (öffentliche Beleidigung des Präsidenten im Zusammenhang mit der Anklage wegen der Durchführung eines Schwerverbrechens). Der Ausdruck, den das Gericht damals als Beleidigung gegen Lukashenka wertete, war ein Zitat auf Flugblättern, die Levonevsky in Grodno verteilte: „Komm und sag, dass du dagegen bist, dass jemand auf deine Kosten nach Österreich in den Urlaub fährt, um sich zu entspannen, Ski zu fahren und munter zu vergnügen.“

Zudem war es Valery Levonevsky nicht möglich, auf Bewährung oder durch eine Begnadigung freigelassen zu werden. Im Gefängnis wurde er oft in eine spezielle Strafzelle gesteckt, mit Besuchsentzug bestraft, ihm wurde medizinische Hilfe verweigert, er wurde von der Gefängnisleitung gefoltert, misshandelt und sogar mit dem Tod bedroht. Dabei hier vielleicht die kurze Anmerkung, dass Levonevsky einen Teil seiner Haftzeit im selben Gefängnis IK-22 „Wolfshöhle“ verbracht hat.[3]

Wladimir Osipenko und Mikalai Autukhovich

Im Jahr 2009 durfte sich der politische Gefangene Wladimir Osipenko nicht von seinem Onkel verabschieden – seinem einzigen Verwandten väterlicherseits. Er wurde nicht zur Beerdigung herausgelassen, weil es angeblich keine Transportmöglichkeiten für ihn gegeben hätte.

Wladimir Osipenko war gemeinsam mit Yuri Leonov und Mikalai Autukhovich inhaftiert worden. Sie wurden wegen Verstößen gegen Artikel 218 des Strafgesetzbuches angeklagt (vorsätzliche Zerstörung oder Sachbeschädigung).[4]

Im Jahr 2012 wurde der (inzwischen ehemalige) politische Gefangene Aleksandr Molchanov nicht zur Beerdigung seiner Mutter gelassen. Zu dieser Zeit war er nach Artikel 205 des Strafgesetzbuchs zu anderthalb Jahren Haft verurteilt (Organisierter Diebstahl in einer Gruppe). Er wurde beschuldigt, Altmetall aus der Zhodino-Metallfabrik gestohlen zu haben.[5]

Alexander Molchanov legte Berufung gegen das Urteil ein, aber zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter war die Beschwerde noch nicht geprüft worden. Die Leitung der Untersuchungshaftanstalt in Zhodino, in der sich Molchanov befand, erklärte: Da die Beschwerde nicht geprüft wurde, ist das Urteil nicht in Kraft getreten, was bedeutet, dass die verurteilte Person nicht als Verurteilter angesehen werden kann und das Recht, an der Beerdigung eines nahen Verwandten teilzunehmen, für sie nicht gilt.

Zuvor war Alexander Molchanov am 19. Dezember 2010 während eines Protestes gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen festgenommen worden. Er wurde für die Schändung von Staatssymbolen und der Teilnahme an Massenunruhen zu 3 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Einige Monate später wurde er jedoch aufgrund eines neuen Begnadigungsdekrets freigelassen.[6]

Aleksandr Grechishnikov (im Zentrum)

2020 starb der Vater des inhaftierten Aktivisten Aleksandr Grechishnikov. Zu dieser Zeit war Aleksandr im Gefängnis in Minsk. Er saß dort, weil er bei einem Protest Unterschriften für Oppositionskandidaten sammelte. Das Sawodsker Bezirksgericht wertete dies als Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung. Die Schwester von Aleksandr Grechishnikovs versuchte, dem Gericht einen Antrag auf die Freilassung Aleksandrs zur Beerdigung des Vaters zu übergeben, aber ihr wurde gesagt, dass dieses Dokument nur von Aleksandr selbst eingereicht werden könne. Die Polizeistation, auf der sich Grechishnikov befand, akzeptierte die Dokumente über den Tod seines Vaters für die Ausstellung des Antrags nicht, und sagte, dass sie zum ROVD (Innenministerium) gebracht werden sollten. Die Schwester bestand aber auf die Übergabe der Dokumente an ihren Bruder, welche ihn letztendlich auch erreichten. Getan hat sich aber noch nichts[7]

Evgeny Afnagel

Am 25. Januar 2021 starb der Vater des politischen Gefangenen Evgeny Afnagel. Der Aktivist ist seit letztem September wegen dem Verstoß gegen Artikel 293 (Beteiligung an Massenunruhen) im Gefängnis. Sein Anwalt wendete sich an die Ermittlungsbehörde mit dem Anliegen, Evgeny für die Beerdigung herauszulassen. Das Ermittlungskomitee antwortete nicht auf die Anfrage und ließ dementsprechend Evgeny auch nicht gehen.[8]

Wie sieht das denn eigentlich rechtlich aus? § 8 Art. 18.7 des Strafvollzugsrechts sieht vor, dass „im Fall des Todes oder einer schweren Erkrankung eines nahen Verwandten durch die Entscheidung des Leiters des Ortes, an dem die Haftstrafe erfolgt, der verhafteten Person eine kurzzeitige Reise außerhalb des Ortes der Haft für bis zu 3 Tage exklusive der Zeit der Hin- und Rückreise gestattet werden kann. Die angegebene Frist ist nicht in der Zeitspanne für die Vollstreckung der Haftstrafe enthalten“.

Hinzu besagt das Strafgesetzbuch der Republik Belarus: Verurteilte können sich unter außergewöhnlichen Umständen, zu denen der Tod eines nahen Verwandten gehört, außerhalb der Justizvollzugsanstalt aufhalten. Speziell wird dort erläutert: „In diesem Fall wird die Zeit, die der Verurteilte außerhalb der Grenzen des Hoheitsgebiets der Justizvollzugsanstalt verbringt, festgelegt unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und des Verhaltens des Verurteilten während der Dauer der Haftstrafe, sowie dem Vorhandensein von Faktoren, welche zur Begehung eines Verbrechens durch den Verurteilten oder andere Personen beitragen können.“

Darüber hinaus sieht Artikel 32 der Verfassung der Republik Belarus den Schutz der Institution der Familie durch den Staat vor. Indem die Behörden den Gefangenen nicht die Möglichkeit geben, sich von ihrer Familie zu verabschieden, verstoßen sie also nicht nur gegen das Verfahrensrecht und das Strafvollzugsrecht und, sondern auch gegen das Grundgesetz des Landes.

Anders Breivik

Und abschließend: 2013 durfte Anders Breivik nicht an der Beerdigung seiner Mutter in Norwegen teilnehmen. Er war wegen zwei Terroranschläge in Oslo und auf der Insel Utøya, bei denen 77 Menschen starben, zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Breivik gilt als der gefährlichster Verbrecher der norwegischen Geschichte, so dass im Gefängnis sogar zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen geschaffen wurden, um ihn festzuhalten. Zur Verabschiedung seiner Mutter wurde er nicht entlassen mit der Begründung, dass Breivik noch nicht ausreichend Zeit im Gefängnis verbracht habe, um es für einen Notfall verlassen zu können.[9] Man kann wohl nur raten, warum für die belarussischen Behörden Menschen, die Lukashenka beleidigen, Jugendliche, die mit Freunden Marihuana geraucht haben, oder Teilnehmer von Demonstrationen waren, auf einer Stufe mit einem solchen Terroristen und Mörder stehen.

[1] https://nash-dom.info/65400

[2]http://spring96.org/ru/news/94103

[3]http://spring96.org/ru/news/9595

[4]https://euroradio.fm/ru/vladimira-osipenko-ne-otpustili-na-pohorony-dyadi-3

[5]https://naviny.online/rubrics/society/2012/06/11/ic_news_116_394870

[6]https://nn.by/?c=ar&i=71615

[7]http://spring96.org/ru/news/97745

[8]https://reform.by/197352-politzakljuchennogo-afnagelja-ne-otpustili-na-pohorony-otca

[9]https://www.delfi.lt/ru/abroad/global/brejvika-ne-otpustili-iz-tyurmy-na-pohorony-materi.d

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