Der Präsident posaunt nun wirklich ständig seine Liebe zu Kindern hinaus, aber hinter diesem schön selbstkreierten Bild steckt eine ziemlich schreckliche Realität: Ein Kind kann beispielweise schon in ein Waisenhaus gebracht werden, wenn es nur ein Foto mit einem Oppositionellen macht. Auch bei der Familie von Vasily Ovchinnikov und seinem 9-jährigen Sohn Vasya wird das versucht. Im Dezember deklarierte die Kommission die Familie als SOP (ein Status für Familien mit sozialem Gefährdungspotenzial), weil der Vater ihrer Meinung nach das Kind daran hinderte, eine Schulausbildung zu erhalten und seinen Sohn in „antisoziale Aktivitäten“ mit hineinzog.
Vasily hält seine Familie für vorbildlich: Er arbeitet als Programmierer, lebt in einer modern renovierten Wohnung. Sein Sohn Vasya geht zum Fußball, besucht eine zusätzliche Englischschule, kann Kopfrechen, lernt brav Geometrie und programmiert selbst auch ein bisschen. Laut seinem Vater ist Vasya ein durchweg fröhlicher Junge, bei dem er ganz oft sein kann, denn zum Glück arbeitet er viel im Home-Office. Kurz gesagt, es gab eigentlich keine Probleme in der Familie.
„Los ging es im im Mai“, erinnert sich Vasily Ovchinnikov. – Zu dieser Zeit hatten mein Sohn und ich bereits mehrere Monate in Minsk gelebt, wir waren vorher aus Grodno hergezogen. Vasya lernt schon länger im Homeschooling, ist also nicht jeden Tag in der Schule, trotzdem bemerkten die Lehrer sein erstaunliches Wissen in den verschiedenen Fächer. Für die Zeugnisse und Prüfungen mussten wir das gesamte Schuljahr 2019/2020 immer wieder nach Grodno reisen. Im Mai bestand Vasya die Prüfungen für die zweite Klasse und am selben Tag gingen wir zu einem Protest, auch um Sviatlana Tsikhanouskayas Unterschriftenliste zu unterschreiben. Mein Sohn sah ihren Mann, den bekannten Video Blogger Sergei Tikhanovskys, und wollte gerne ein Bild mit ihm machen. Keine fünf Minuten später, kurz nachdem wir gegangen waren, wurde Sergei verhaftet. Um ihn daraufhin zu unterstützen, habe ich auf meiner Facebook-Seite dann das Foto von Vasya und ihm gepostet.
Bei den Wahlen stimmte Vasily später für Swiatlana Tsikhanouskaya. Dort sah er, dass es kein Protokoll im Wahllokal gab, und meldete den Verstoß. Ein wenig später, Anfang September, sah Vasily eine unbekannte Frau in seinem Garten weiß-rot-weiße Bänder abschneiden. Er ging zu ihr um mit ihr zu reden und wurde daraufhin fast von der ankommenden Polizei festgenommen. Am nächsten Tag erschien ein Kleinbus mit einem Nummernschild aus Grodno im Hof – Vasily war klar, dass er wohl von nun an verfolgt wird.
Das Leben in Minsk wurde bald generell noch härter. Einmal gingen Vasily und sein Sohn in ein Café im Einkaufszentrum „Galleria Minsk“, um etwas kleines zu sich zu nehmen. Plötzlich rannten einige Menschen um die Ecke herum, gefolgt von einer Horde maskierter Männer. Die letztgenannten schlugen vor den Augen des 9-jährigen Jungen einen älteren Mann blutig.
„Im September erhielt ich einen Anruf“, fuhr der Vater fort. – Die Frau am Telefon stellte sich als Angestellte der Jugendinspektion der Leninsky District Police Department vor und sagte, die Polizeiabteilung habe ein Papier von der Leninsky District Administration erhalten. Mir war direkt klar, ich geh nirgendwohin: Ich wusste, dass ich wahrscheinlich aus einem Gefängnis nicht mehr rauskommen würde – und was würde dann mit dem Kind passieren? Fast einen Monat später, am 18. Oktober, erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass der Ausschuss am 23.Oktober zusammentreten wird, um über die Entscheidung zu beraten, unsere Familie als SOP einzustufen, und ich müsste dafür persönlich vor Ort sein. Ich habe schon mehrfach davon gelesen, wie Familien als SOP eingestuft werden, nur weil sie mit Wahlmanipulationen und der Gewalt gegen Menschen im Land nicht einverstanden sind. Wir mussten Belarus verlassen, und ein Anwalt ging zu dem Treffen.
Der Hauptgrund, warum die Familie der Ovchinnikovs in die SOP-Datenbank aufgenommen wurde, ist, dass Vasya keine Schule in Belarus besucht. Vor einiger Zeit hatte Vasil beim Bildungsministerium des Exekutivkomitees der Stadt Minsk angefragt was es denn für Möglichkeiten gäbe, und eine hochrangige Beamte hatte vorgeschlagen, seinen Sohn in eine russische Schule für Fernunterricht einzuschreiben. Und sie erklärte: Das würden viele Familien tun, die lieber wollen, dass ihre Kinder zuhause lernen. Vasya wurde an der „Preobrazhenskaya-Schule 1505“ in Moskau angenommen.
Die Kommission erhielt alle Dokumente der russischen Schule, aber die Beamten entschieden, dass A die Familie Ovchinnikov weiter im Land sei und B dass die Eltern die Ausbildung des Kindes behinderten. Sie ignorierten auch die offizielle Bestätigung, dass die Familie inzwischen nicht mehr in Belarus lebt, was bedeutet, dass Vasya nicht einmal eine belarussische Schule hätte besuchen können. Übrigens wenn eine Familie einen SOP-Status hat, kann außerdem ein internationaler Haftbefehl gegen sie ausgerufen werden und sie gegen ihren Willen zurückgebracht werden.
In dem Bericht der Bezirkspolizeibehörde Leninski heißt es, dass „der Vater einen negativen Einfluss auf das Kind hat und es an antisozialen Aktivitäten beteiligt“. – Der einzige angebliche Beweis ist das Foto seines Sohnes mit Sergei Tikhanovsky auf Facebook. Ich kann davon ausgehen, dass den Beamten die Tatsache, dass ich Unregelmäßigkeiten im Wahllokal beobachtet habe, nicht gefallen hat, weil der Vorsitzende des Rates Viktor Dovnar, stellvertretender Leiter der Leninski-Bezirksverwaltung für staatliche Ideologie, und Oksana Goven, Chefinspektorin der Abteilung für ideologische Arbeit, dafür mitzuständig waren.
Jetzt bereiten Vasily und sein Anwalt eine Beschwerde gegen die Aufnahme in das SOP-System vor. Der Prozess ist für den 17. März angesetzt. Vasily wird dabei von einem Vertreter ersetzt, denn solange Lukaschenko in Belarus regiert, wird die Familie Ovchinnikov nicht dorthin zurückkehren.
Die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Elena Kashina stellt klar: Die Resolution des Ministerrates der Republik Belarus vom 15.J anuar 2019 Nr. 22 „Die Einstufung von Kindern in einer sozial gefährlichen Situation“ sieht tatsächlich eine Behinderung für die Erlangung der allgemeinen Grundschulpflicht (in irgendeiner Form) als einen Indikator für eine solche Einstufung vor.
Die Kommission liegen jedoch Dokumente vor, dass das Kind an der „Preobrazhenskaya-Schule 1505“ in Moskau für die Zwischenprüfung der 3.Klassen zugelassen wurde und sich im Fernunterricht befindet. Das heißt, die Anschuldigung, dass der Vater des Kindes ihn daran hindert, eine schulische Ausbildung zu bekommen, ist in keiner Weise haltbar, – erklärt Elena.
Der nächste Grund für die Einstufung war die Information der Abteilung für innere Angelegenheiten der Bezirksverwaltung Leninski in Minsk, dass der Vater einen negativen Einfluss auf den Jungen hatte, ihn u.a. in antisoziale Aktivitäten verwickelte und seine elterlichen Pflichten schlecht erfüllte.
„Es gibt keine Informationen darüber, wie und welchen negativen Einfluss der Vater auf das minderjährige Kind hat“, sagt Elena während sie das Dokument studiert. – Die Entscheidung, sie in das SOP-System aufzunehmen, basierte auf Annahmen.
Höchstwahrscheinlich, glaubt Elena, ist der Hauptgrund dafür, sie als SOP einzustufen, den Aufenthaltsort des Vaters festzustellen. Es kann dabei sehr davon ausgegangen werden, dass dies auf Vasiliy Ovchinnikovs Meldung der Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl zurückzuführen ist.