Am Tag der Wahlen kam es in der Stadt in Brinsk sowie auch in vielen anderen Städten zu Protesten. Eine große Gruppe von Anwohnern marschierte durch das Zentrum und rief laut ihre Forderungen. Sie hielt vor der Stadtverwaltung an, wo sie auf die OMON-Streitkräfte (eine für ihre Brutalität bekannte Spezialeinheit der Polizei) traf. Und obwohl es in Pinsk nicht zu Massenverhaftungen kam, eröffnete das Untersuchungskomitee am nächsten Morgen ein Strafverfahren wegen der Unruhen. Aktuell gibt es 14 Verdächtige in dem Fall, allesamt warten sie auf ihre Gerichtsverhandlung.

Was geschah in Pinsk?

Nach den Wahlen am 9. August versammelten sich rund 100 Menschen im Park beim „Denkmal für die Partisanen von Polesie“. Zunächst standen sie dort bloß, fingen aber schon an sich über die letzten Neuigkeiten auszutauschen. Das Internet war bereits abgestellt und als die Wahlergebnisse dann veröffentlicht wurden, gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Die Menge konnte es nicht fassen: „Wie, 80 Prozent?“ – und entschied, zum Exekutivkommitee der Stadt zu gehen, um herauszufinden, wie innerhalb der Stadt abgestimmt wurde. Die Kolonne wurde von einigen Mitarbeitern der Polizei und Streifenwagen flankiert. Auf dem Weg zum Exekutivkommitee wurden einige Menschen auf der Pervomaiskaja-Straße verhaftet, doch die Demonstranten setzten ihren Weg fort. Sie marschierten friedlich. Es versuchte zwar jemand, Provokationen anzuzetteln, doch man brachte ihn sofort zur Ruhe.

Auf der Lenin-Straße versammelten sich dann knapp 500 Einwohner der Stadt. Sie gingen durch die Stadt und riefen „Für die Freiheit! Wir glauben! Wir können! Wir werden siegen! Wandel!“. Dann hielten sie nahe des Exekutivkommitees an. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Protestzug schon aus etwa 1000 Menschen und forderte jetzt auch die Sicherheitskräfte dazu auf, auf die Seite des Volkes zu wechseln.

Dzmitrij Koroviakovskij, der Leiter der Polizeibehörde, ging zu den Demonstranten und schlug vor, fünf Personen auszuwählen, die mit den Vertretern der Behörde sprechen sollten. Die fünf Pinsker wurden unter Schutz der Polizei hinausgeführt und aufgefordert, am Eingang des Exekutivkomitees der Stadt zu warten, denn es wurde dann doch nur einer von ihnen hineingelassen. Nach einiger Zeit kam er auch schon wieder hinaus und sagte, das Gesehene habe ihn nicht davon überzeugt, dass die Wahlen rechtmäßig verlaufen seien.[1]

Alle Unterhaltungseinrichtungen und Restaurants im Zentrum wurden geschlossen. Doch die Menschen hatten es nicht eilig, sich zu zerstreuen, und forderten, den Bürgermeister zu sprechen. Gegen ein Uhr morgens hatten sich die Reihen der Demonstranten dann aber doch ein wenig gelichtet. Die Verbleibenden versammelten sich auf dem Lenin-Platz. In diesem Moment stürmten die OMON-Truppen aus den anliegenden Straßen auf die Menschen zu. Die Demonstranten bemühten sich, mit ihnen zu verhandeln, doch die Sicherheitskräfte ließen sich nicht darauf ein und umringten sie. Als Reaktion darauf flogen Steine, Stöcke aber auch die Bretter von den Bänken, die auf der Lenin-Straße standen. Die Sicherheitskräfte zogen sich zurück und flohen nach Angaben verschiedener Quellen in das Exekutivkomitee der Stadt.

Um zwei Uhr nachts verließen etwa 500 junge Leute das Gebiet um das Exekutivkomitee und gingen weiter in Richtung der Pervomaiskaja-Straße. Dort wurden ca. 70 Menschen verhaftet. Daraufhin begannen die Demonstranten sich an der Kreuzung mit der Zentralnaja-Straße, zu zerstreuen

Die Unruhen dauerten auch am nächsten Tag in der Stadt noch an: In der Nähe des Rathauses wurde eine Polizeisperre errichtet, das Zentrum wurde abgesperrt und von Wagen der Verkehrspolizei umgeben. Die Beamten überprüften die Dokumente der vorbeifahrenden Fahrer. Nach sechs Uhr am Abend des 10. August wurde dann, beinah jeder festgenommen, der aus irgendeinem Grund im Stadtzentrum auftauchte. Gegen 22 Uhr setzten dann Massenverhaftungen gerade junger Leute ein, welche durch die Fußgängerzone liefen.[2]

Die Version der Ermittler

Nach offiziellen Angaben des Innenministeriums „versuchte eine Gruppe aggressiv gestimmter Bürger unter Benutzung angespitzter Pfähle, von Stangen, Steinen und weiterer Bewaffnung einen Angriff auf Polizeibeamte zu organisieren“.[3] Infolgedessen erhielten sieben Polizeibeamte weniger schwere Körperverletzungen, sechs weitere – leichte Körperverletzungen, die zu einer kurzfristigen Gesundheitsstörung führten, 42 – leichte Körperverletzungen, die keine kurzfristige Gesundheitsstörung zur Folge hatten und 54 hatten Schläge abbekommen.[4] Der durch die Unruhen entstandene Schaden wurde auf 24 000 Rubel geschätzt.[5]

Nach Aussagen von Angehörigen der Polizei von Pinsk war am 09. August im Radio die Information zu hören, dass eine Gruppe von ca. 500 Menschen vom Lenin-Platz zum Gebäude des Pinsker Exekutivkomitees ging. Die Sicherheitskräfte begaben sich daraufhin sofort zur Stadtverwaltung und errichteten eine Sperre. Reihen von Polizisten mit Schildern, Helmen und Gummistöcken reihten sich aneinander, um zu verhindern, dass Radikale in das Exekutivkomitee der Stadt eindrangen und die Durchführung der Wahlen störten.

 

Der Leiter der Polizeiabteilung, Dzmitrij Koriakovskij, erklärte später: „Wenn die Leute drei Tage lang mit Stöcken und Steinen losziehen, jeden Abend und Tag auf die Straße gehen und in schreienden Massen herumziehen und die Stadt zertrümmern – nun, dann ist in diesem Moment doch wohl die Anwendung von Gewalt erlaubt.  Dies nennt man harte Inhaftierung. Wir haben die Anführer, auf die uns der Geheimdienst hingewiesen hat, mit einer solchen harten Inhaftierung festgenommen. Daher wussten wir, wozu diese Menschen fähig waren. Diejenigen, die versuchten, sich zur Wehr zu setzen, erhielten ebenfalls weiche Stöße mit einem Gummiknüppel. Anders geht es nicht. Diese sind recht elastisch, weich und bei Anwendung auf den Körper fügen sie ihm keine ernsthaften Verletzungen zu. Es gibt blaue Flecken und Schwellungen, aber nicht mehr“.

Das Strafverfahren gegen die zehn Angeklagten wurde am 04. Februar an das Gericht übermittelt. Die Gerichtsverfahren in diesem Fall finden vom 23. bis 25. März, vom 29. März bis 2. April und vom 5. bis 9. April statt.

Wer für die Massenunruhen verantwortlich gemacht wird

Stanislav Michailov

Stanislav Michailov wurde am 09. August festgenommen, als er in ein Cafe ging, um einen Kaffee zu trinken. Kurz nachdem er die Bestellung aufgab, stürmten Sicherheitskräfte die Einrichtung. Dabei wurde Stanislav zusammen mit noch einem weiteren Gast verhaftet. Der Anwalt des Mannes sagte, dass man an ihm klare Schlagverletzungen sah. Wie der andere Angeklagte auch, wurde Stanislav gemäß § 2 Art. 293 des Strafgesetzbuchs (Teilnahme an Massenunruhen) angeklagt. Er wird in einem Untersuchungsgefängnis festgehalten.

Grigorij Gunko wurde in der Nacht des 10. August festgenommen. Er wurde gemäß § 2 Art. 293 des Strafgesetzbuchs der Republik Belarus (Teilnahme an Massenunruhen) angeklagt. Am 24. Dezember wurde er zum politischen Gefangenen erklärt. Am 5. März übernahm die Baronin Angela Smith vom britischen Oberhaus eine Patenschaft für ihn.[6]

Elena Mowschuk

Die einzige Frau unter den Angeklagten ist Elena Mowschuk, die als Sanitäterin im Pinsker Krankenhaus arbeitet. Sie wurde zusammen mit ihrem Mann Sergei in der Nacht des 9. auf den 10. August verhaftet: Das Paar ging im Zentrum spazieren. Dann wurden sie auf die Polizeistation gebracht. Dabei wurde Sergei geschlagen und in einen Polizeitransporter geworfen, dann aber nach 17 Stunden wieder freigelassen. Elena wurde in ein IVS (Gefängnis für die Untersuchungshaft) geschickt. Die Grundlage der Anklage stellte ein Video dar, welches die Polizeibeamten auf dem Telefon eines der Verhafteten fanden: Dort sieht man eine Frau, die Elena ähnlich sieht, die entweder in Richtung der Sicherheitskräfte ausholt oder sie mit einem aus einem Blumenbeet gerissenen Stock schlägt. Eine Frau, die mit Elena im IVS in der Zelle war, sagte, dass sie in der Zelle geschlagen wurde. In der Untersuchungshaft wurde Elena als aggressiv bezeichnet und wurde daraufhin zusätzlich unter besonderen Bedingungen festgehalten. Ihre 10-jährige Tochter Angelina wurde in ein Heim gebracht. Ihr Mann Sergei steht unter Hausarrest – ihm steht ebenfalls eine Gerichtsverhandlung bevor.[7]

Artur Chalimontschik wurde in der Nacht des 09. auf den 10. August festgenommen. Am 04. September wurde er zum politischen Gefangenen erklärt. Sein „Pate“ ist Dietrich Monstadt, Mitglied des Deutschen Bundestages. Arthur wurde gemäß § 2 Art. 293 des Strafgesetzbuchs (Teilnahme an Massenunruhen) angeklagt. Er wird in einem Untersuchungsgefängnis in Brest festgehalten.

Viacheslav Rogaschuk

Der Taxifahrer Viacheslav Rogaschuk wurde am 10. August vor den Augen seiner Schwester und seines 12jährigen Neffen brutal festgenommen. Drei Tage lang wurde er im Gefängnis zusammengeschlagen. Viacheslavs Zellengenosse sagte, dass er ein sehr großes und leicht hängendes Hämatom hinter dem Ohr hatte, drei Kopfverletzungen und alle Wirbeln wären mit schwarze, runde Blutergüssen überhäuft gewesen. Er wurde von allen in der Zelle am meisten geschlagen. Medizinische Hilfe wurde Viacheslav in der Untersuchungshaft verweigert – erst Anfang Oktober kam ein Arzt zu ihm. Bei ihm wurde ein Minischlaganfall diagnostiziert. Viacheslav hat drei minderjährige Kinder: sechs, sieben und neun Jahre alt.[8]

Roman Bagnovets

Der 36jährige Roman Bagnovets wurde am 10. August verhaftet. Bis zu seiner Festnahme arbeitete er in der Gesteinsbranche in Minsk. Er kam am Vorabend der Wahlen wegen Familienangelegenheiten nach Pinsk, da nach dem Tod seiner Mutter die entsprechenden Dokumente ausgestellt werden mussten. Den Angaben seiner  Schwester zufolge wollte er an diesem Tag eigentlich nirgendwohin, aber als mittags dann das Internet abgeschaltet wurde, entschied er sich, durch die Stadt zu spazieren. Von 20.30 Uhr bis Mitternacht befand er sich in einer Pizzeria, dann ging er in die Stadt. Gegen Mitternacht hörte Romans Schwester Schreie auf der Straße und rief ihren Bruder an, um sicher zu gehen, dass mit ihm alles in Ordnung war. „Ich sagte ihm, dass er schnell nachhause kommen sollte. Und er sagte zu mir: „Ich filme gerade, was hier passiert, damit ich es später an den Internationalen Gerichtshof schicken kann.“ Ich bemerkte, dass dort gerade noch mehr OMON-Truppen vorfuhren“ – erinnert sich die Schwester. Fünf Minuten später war er nicht mehr erreichbar. Roman wurde gemäß § 2 Art. 293 des Strafgesetzbuchs („Unruhen“) angeklagt. Aus der Akte ging hervor, dass er einen Stock nach den OMON-Truppen geworfen habe.[9]

Daniil Bognat (von rechts) und Oleg Rubets

Daniil Bognat war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 18 Jahre alt. Am 10. August ergriffen ihn die Sicherheitskräfte zusammen mit einem Freund, dem 19jährigen Oleg Rubets. Die Jungen verband die Liebe zum örtlichen Fußballclub „Volna“. Beide studierten am örtlichen Lyzeum und bekamen einen Job als Traktorfahrer im Vertrieb. Dort konnten die Jungen jedoch lediglich zwei Wochen lang arbeiten. Nach ihrer Verhaftung wurden die beiden Freunde ins Pinsker IVS gebracht. Leute, die gemeinsam mit ihnen inhaftiert waren, sagten, dass sie geschlagen wurden und dass es im IVS Läuse und Zecken gab. An den heißen Augusttagen bekamen die Gefangenen kein Wasser, wurden nicht auf die Toilette gelassen und ständig geschlagen. Derzeit werden beide in Untersuchungshaft festgehalten.[10] Sie wurden gemäß §2 Art. 293 des Strafgesetzbuchs (Teilnahme an Massenunruhen) angeklagt.

Der 19jährige Viacheslav Schelemet geriet am 20. August in Untersuchungshaft. Am 17. September wurde er als politischer Gefangener anerkannt. Im März wurde er ins Untersuchungsgefängnis No.7 in Brest überstellt. Sein „Pate“ ist Frank Heinrich, Mitglied des Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im deutschen Bundestag.

Devid Mostitskij

Devid Mostitskij wurde am 02. September im „Fall von Pinsk“ verhaftet. Zunächst wurde ihm mitgeteilt, er solle als Zeuge in einem Fall aussagen, der gegen Freunde von ihm aufgenommen worden war. Doch nach der Befragung wurde er nicht entlassen – zunächst wurde er für 72 Stunden inhaftiert, dann in Untersuchungshaft in Baranovitschi gesteckt und nach § 2 Art. 293 des Strafgesetzbuches angeklagt. Der junge Mann hat ein Kind, das noch kein Jahr alt ist.

Igor Solovjei studierte im Rahmen des Kalinovskij Programms in Polen in der Fachrichtung „Politologie-Journalismus“. Er war Aktivist der Bewegung „Für die Freiheit“. Er wurde am 03. September verhaftet. Am 17. September wurde Igor als politischer Gefangener anerkannt. Er wird noch immer in Untersuchungshaft in Baranovitschi festgehalten.

Aleksander Tereschko wurde am 20. September im „Fall von Pinsk“ festgenommen. Er wurde nach §2 Art. 293 des Strafgesetzbuches (Teilnahme an Massenunruhen) festgenommen und im Untersuchungsgefängnis No. 7 in Brest festgehalten. Am 03. Dezember wurde er als politischer Gefangener anerkannt.

Sergei Leschenko und seine Familie

Sergei Leschenko wurde am 23. September im „Fall von Pinsk“ in Gewahrsam genommen. Vorher wurde er schon am 28. August zum ersten Mal verhaftet. Sergeis Frau Olga erzählte, dass die Polizeibeamten den jungen Mann auf einem Video der Proteste erkannten, das im Internet erschienen war. Daraufhin wurde er für 72 Stunden in Isolationshaft gebracht, anschließend wurde er entlassen und mit dem Status eines Verdächtigen für die Teilnahme an Massenunruhen unter Hausarrest gestellt. Beim zweiten Mal wurde er an seinem Arbeitsplatz festgenommen. Der Grund für diese Maßnahme sei angeblich ein Verstoß gegen die Vorgaben des Hausarrests gewesen, sowie die Ansicht der Ermittler, dass Sergei vorhatte, ins Ausland zu gehen.[11]

 

Die erste Sitzung im „Fall von Pinsk“ findet am 23. März 2021 um 10.30 im Gericht des Moskauer Bezirks in Brest im Raum Nr. 439 statt. Die Sitzung ist öffentlich.

[1] https://news.tut.by/society/717392.html

[2]https://1reg.by/2020/08/13/9-i-10-avgusta-protivostoyanie-v-pinske/

[3]https://news.tut.by/society/696193.html

[4]https://news.tut.by/society/717615.html

[5]https://news.tut.by/society/717615.html

[6] https://www.delfi.lt/ru/abroad/global/evrodeputaty-vzyali-pod-opeku-esche-devyat-politzaklyuchennyh-v-belarusi.d?id=86631493

[7]https://reform.by/172255-moja-mama-v-tjurme-istorii-politzakljuchennyh-mnogodetnyh-materej

[8]http://spring96.org/ru/news/99999

[9]https://spring96.org/ru/news/99523

[10]https://spring96.org/ru/news/99965

[11]https://news.tut.by/society/703700.html

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