Vor einem Jahr wusste Natalia Hershe, eine gebürtige Orshaerin (Belarus), noch nicht, dass sie ihre in der Schweiz lebenden Verwandten bald nicht mehr sehen würde. Nach den Wahlen im August kam sie in ihr Heimatland und nahm an einer Demonstration teil, bei der sie einem OMON-Beamten (Mitglied der polizeilichen Spezialeinheit) eine Sturmhaube vom Kopf riss. Dafür wurde sie zu 2,5 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Nun ist Natalia nicht nur Einwohnerin von St. Gallen, Ehefrau, Schwester und Mutter, sondern auch eine politische Gefangene in Belarus.

Ihr Leben vor den Protesten

Natalia Hersche lebt seit 12 Jahren in der Schweiz. Sie studierte an der Technischen Hochschule in Orsha, machte dann ihren Abschluss an der Belarussischen Staatlichen Wirtschaftsuniversität, arbeitete als Buchhalterin in der Abteilung für Sozialschutz in der Stadtverwaltung von Orsha und heiratete einen Landsmann. Sie wollte aber immer ins Ausland gehen um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten.

Die Ehe ging auseinander und nach der Scheidung begann Natalya Deutsch zu lernen. Sie heiratete einen Schweizer, den sie auf einer Online-Dating-Seite kennengelernt hatte und zog mit ihm und ihren beiden Kindern aus erster Ehe in sein Heimatland. Sie begann ihre Karriere als technische Angestellte in einer Brauerei und ein paar Monaten später, als der Direktor der Brauerei von ihrer Ausbildung erfuhr, wurde sie in das Labor für Qualitätskontrolle versetzt.

Später arbeitete Natalia in einer Kochgeschirrfirma, und jetzt hat sie eine leitende Position in einem Privatunternehmen inne. Neben der Arbeit studierte sie Zeichnen und besuchte dafür sogar Kurse in St. Petersburg. Ihr Gehalt erlaubte es ihr sich selbst zu versorgen – Natalia sagte wiederholt, dass sie schockiert war, dass sie sich mit einem Gehalt ein Auto kaufen konnte.

All diese Jahre vergaß die Frau ihre Heimat nicht und betrachtete sich als stolze Belarusin. Sie weigerte sich sogar ihren Belarusischen Pass abzugeben. Sie hielt Kontakt zu ihrem Bruder Gennady, kam oft nach Belarus und brachte beispielsweise auch Kindersachen für ihre Neffen mit. Sie verfolgte nach der Wahl aktiv die Ereignisse in der Heimat. Im September kam Natalya während ihres Urlaubs nach Belarus. Sie entschied sich nicht für die warmen Länder im Süden, sondern für das Land, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Dort beteiligte sie sich sofort aktiv an friedlichen Kundgebungen. Ihr Ehemann Robert Stoeli, Sohn Fyodor und Tochter Violetta warten in der Schweiz auf sie.[1]

Der Tag ihrer Verhaftung

Am 19. September ging Natalya Hershe zur Frunzenski DPP (Sozialpädagogisches Zentrum), um die Aktivistin Alena Lazarchyk zu unterstützen, der man wegen ihrer bürgerlichen Position den Sohn wegnehmen wollte. „Natasha rief mich voller positiver Eindrücke an. Sie sagte, es sei unmöglich sich nicht für die Frau zu freuen, denn dank der vielen Menschen ist der Junge wieder bei seiner Mutter“, – erinnerte sich später ihr Bruder, Gennady. Während des Gesprächs sagte Natalya, dass sie zum Protest am Komarowo-Markt gehen würde. Gennady, der zu der Zeit in Maladechna war, verfolgte den Protest online – und sah tatsächlich sofort seine Schwester im Stream. Der Moment, als sie dem Bereitschaftspolizisten die Sturmhaube abzog, wurde ebenfalls im Bild festgehalten, aber ihr Bruder schenkte dem keine Beachtung. Nach der Verhaftung gelang es Natalia ihren Bruder anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie festgenommen worden war. Er sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen und hoffte, dass ihre Schwester nach der Aufnahme der Personalien freigelassen werden würde.

Danach wurde die Verbindung mit Natalia Hershe gekappt. Weder Gennady noch ihre Freundin Alena, in deren Haus Natalja in Minsk wohnte, konnten sie anrufen. Sie suchte in verschiedenen Polizeistationen nach ihr, aber es gab keine Informationen über ihren Verbleib. Angehörige der Belarus-Schweizerin waren bis spät in die Nacht auf der Suche.

Am späten Abend desselben Tages fanden Gennadiys Kinder Natalia in der Liste der Inhaftierten, die von dem nicht registrierten Menschenrechtszentrum „Viasna“ veröffentlicht wurde. Es hieß, sie sei nach Okrestina gebracht worden.[2]

Natalias Bruder wandte sich an die Schweizer Botschaft in Belarus und fand so eine Anwältin für seine Schwester. Die Verteidigerin Halina Melnichenok schaffte es herauszufinden, dass das Gerichtsverfahren bereits ohne sie stattgefunden hatte: N.Hersha wurde nach Artikel 23.34 zu 15 Tagen Haft verurteilt. Das war aber noch nicht alles. Danach wurde Natalia nach Artikel 363 des Strafgesetzbuches angeklagt (Widerstand gegen einen Beamten der inneren Angelegenheiten oder eine andere Person, die die öffentliche Ordnung bewacht). Vor der Verhandlung wurde sie erst in die Untersuchungshaftanstalt Zhodzina, dann – in die Untersuchungshaftanstalt Nr. 1 überführt.

Der Prozess gegen Natalia Hershe

Die Belarus-Schweizerin hatte am 3. Dezember ihre Gerichtsverhandlung. Natalia wurde beschuldigt den Aufforderungen der Beamten, in das Spezialfahrzeug einzusteigen, nicht gehorcht zu haben. Hinzu hätte sie versucht zu fliehen. Als sie von dem 22-jährigen Polizisten Sergei Konchik festgenommen wurde, hätte sie angeblich bewusst Widerstand und Gewalt gezeigt: Sie hätte sich gewehrt und gezerrt, Konchiks Gesicht gepackt und selbiges zerkratzt, seine Sturmhaube abgezogen und dadurch die Uniform ruinierte und Körperverletzung an ihm verübt.

Natalia gab ihre Schuld nicht zu und bat darum, den verletzten OMON-Beamten zu sehen, der im Gerichtssaal eine medizinische Maske trug. Das Gericht lehnte den Antrag ab. Außerdem sagte Natalia, dass sie versucht habe zu fliehen, da sie sich an die Todesfälle in Belarus erinnerte und sicher war, dass sie eines der Opfer werden würde, wenn sie in den Polizeitransporter stieg. „Als ich ein paar Schritte vom Auto entfernt war, kam mir spontan die Idee, dass, wenn ich dem Mann in die Augen schaue, egal wie lächerlich das klingt, er Erbarmen mit mir hätte und mich gehen lassen würde. Ich drehte mich zu ihm um und versuchte die Sturmhaube abzunehmen. Meine Absichten waren nie ihm körperliche Schmerzen zuzufügen“, – verteidigte sich Natallia bei der Verhandlung.

Sergei Konchyk schrieb eine Klageschrift gegen Natalya Hershe und verlangte 100 Rubel als moralische Entschädigung. Im Gerichtssaal merkte er an, dass er die Entschädigung auf 1.000 Rubel erhöhen möchte, die er dann dem Kinderonkologiezentrum spenden wollte.

Die Anwältin des Angeklagten beantragte zusätzliche Beweismaterialien, aber das Gericht lehnte es ab. Das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung, in dem die von S.Konchik erlittenen Verletzungen beschrieben wurden, sowie Fotos der Verletzungen wurden dem Fall nicht beigefügt. Der Zeuge Juri Petrow, der Chef des “Opfers”, beschrieb ganz andere Verletzungen und seine Worte stimmten nicht mit den Worten von S.Konchik überein, aber die Widersprüche wurden nicht weiter kommentiert. Darüber hinaus beantragte Natalias Anwältin die Beifügung des originalen medizinischen Berichts des Krankenhauses mit einer Beschreibung von S.Konchyks Verletzungen zur Fallakte – und auch sie wurde mit der Begründung abgelehnt, da „es genügend Material in der Strafakte geben würde”.

Die Verteidigerin betonte, dass Natalia Hershe seit 13 Jahren in der Schweiz lebt, wo die Beamten des Innenministeriums nur in Uniform mit Erkennungszeichen gekleidet sind. Außerdem machte die Anwältin deutlich, dass es in der Schweiz erlaubt ist öffentliche Veranstaltungen ohne Genehmigung der Behörden durchzuführen – und es war ein Novum für Hershe, dass sie eine Genehmigung für eine Protestaktion in Belarus brauchte. Hinzu versuchte nach Ansicht der Verteidigerin die Untersuchung die Beweise zu verbergen, die nicht in die Beweislage passten.[3]

Die Staatsanwaltschaft forderte 2,5 Jahre Haft für Natalia Hershe. Der Richter folgte der Forderung. Außerdem muss Natalia an S.Konchik die materielle Entschädigung für den moralischen Schaden in Höhe von 1000 Rubel, die staatliche Gebühr von 81 Rubel und Verfahrenskosten von 11 Kopeken zahlen. Die bei der Verhaftung beschlagnahmten Habseligkeiten der Schweizerin (Handy, Apple Watch,…) werden unter Verschluss gehalten, und ihre weiß-rot-weiße Fahne wurde zur Vernichtung angeordnet.[4]

Natalia Hersche nach der Verhandlung

Am 23. Dezember wurde Natalia Hersche zur politischen Gefangenen erklärt und ihre Verfolgung als politisch motiviert bezeichnet. In einer Erklärung der Menschenrechtsgemeinschaft wurde festgestellt, dass die Aktivitäten der Polizei während der Festnahme der Demonstranten vom 19. September die Grenzen ihrer Pflicht zum Schutz der Ordnung überschritten und dass Natalia keine Straftat begangen hatte.[5]

Am 19. Januar trat Natalia im Gefängnis in einen Hungerstreik. Sie protestierte, da sie seit Dezember keinen Brief mehr erhalten hatte. Innerhalb von drei Tagen nach dem Hungerstreik wurde sie in eine Zelle mit besseren Bedingungen verlegt und erhielt 38 Briefe, sie durfte auch mit dem Botschafter der Schweiz sprechen. Infolgedessen beendete Natalia ihren Hungerstreik.[6]

Nach der Verhandlung legte Natalia Hershe Berufung gegen ihr Urteil ein. Am 16. Februar wurde die Berufung angehört. Die Strafe für den Belarus-Schweizerin blieb jedoch unverändert. N.Hershe bat darum, an der Anhörung teilnehmen zu dürfen und sich sogar dabei einem Lügendetektortest zu unterziehen. Diese Anträge wurden abgelehnt.[7]

Am 22. Februar trat Natalia erneut in den Hungerstreik, der am 12. März endete. An diesem Tag wurde sie in die Strafvollzugskolonie Nr. 4 in Gomel transportiert. Die Fahrt zur Kolonie dauerte 12 Stunden. „Ich habe wieder angefangen zu essen, ich habe einen Apfel gegessen, es gab wenig Wasser, sie haben Wasser gespart. Bei der Ankunft sah auf den ersten Blick alles gut aus, aber ich fühlte mich sehr schwach. Wir haben Abendessen gefangen, es war sehr gut, obwohl ich nicht viel gegessen habe“, – sagte Natalia in ihrem Brief.[8]

Unterstützung der Schweizer Behörden und der belarussischen Opposition

Claude Altermatt

Seit dem 19. September ist Natalia Hershe im Visier der Schweizer Botschaft in Belarus. Der Schweizer Botschafter in Belarus, Claude Altermatt, hat die Gerichtsverhandlungen beobachtet und Natalia im Gefängnis besucht. Zum ersten Mal einen Monat nach der Festnahme der Schweizerin. Sein „Care-Paket“ für Natalia durfte er nicht mit reinnehmen.

Am 20. Oktober übernahm die Schweizer Abgeordnete Barbara Ghisi eine politische „Patenschaft“ für Natalia. Der Schweizer Außenminister Ioniazio Cassis wandte sich in Richtung Minsk mit der Forderung, Natalia freizulassen. Auch die Schweizer Behörden stehen in ständigem Austausch mit den belarussischen Behörden. Darüber hinaus sind sie besorgt über die Zunahme der Gewalt gegen friedliche Demonstranten in Belarus und bedauern das Urteil. Es ist rechtlich nicht möglich dagegen Berufung einzulegen.[9] Der Fall von Natalia Hershe wird in der Schweizer Presse breit behandelt, vor allem dank der Belorussischen Diaspora in der Schweiz, die Solidaritätsaktionen mit Natalia abhält.

Am 8. Dezember gab das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bekannt, dass es gemeinsam mit dem Anwalt von Natalia Hershe die nächsten Schritte evaluieren werde. „Frau Hersche wird weiterhin unter konsularischem Schutz stehen“, hieß es in der Erklärung.[10]

Im März, während eines Besuchs in der Schweiz, traf sich Svetlana Tihanovskaya mit Natalyas Familie: Ehemann Robert Stoeli und Tochter Violetta. Sie versprach, dass sie sich für die Freilassung von Natalya Hershe und aller politischen Gefangenen einsetzen werde. „Familien sollten nicht getrennt werden“, sagte sie.[11]

[1] https://nina.nn.by/?c=ar&i=264949&lang=ru

[2]  https://lady.tut.by/news/mylife/704767.html

[3] https://spring96.org/ru/news/100766

[4] https://spring96.org/ru/news/100814

[5] https://reform.by/189523-grazhdanka-shvejcarii-natalja-hershe-priznana-politzakljuchennoj

[6] https://svabod1.azureedge.net/a/31063514.html

[7] https://reform.by/202162-prigovor-grazhdanke-shvejcarii-natale-hershe-ostavili-bez-izmenenij

[8] https://euroradio.fm/ru/politzaklyuchennaya-natalya-hershe-prekratila-golodovku

[9] https://www.dw.com/ru/kak-grazhdanka-shvejcarii-okazalas-v-belorusskoj-tjurme-i-chto-tam-uvidela/a-55898182

[10] https://reform.by/185895-shvejcarija-prodolzhit-okazyvat-konsulskuju-zashhitu-natale-hershe

[11] https://reform.by/207734-tihanovskaja-vstretilas-s-semej-natali-hershe

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