Im vergangenen Oktober wurde ein Video, das ein dunkelhaariges Mädchen in einer grünen Jacke zeigt, welches auf die Hintertür eines Polizei-Minibusses schlägt, vielfach in Belarus geteilt. Wenig später wurde berichtet, dass sich der Vorfall in Witebsk während einer Kundgebung ereignete und die 22-jährige Krankenschwester Julia Kascheverova gegen das Auto getreten hätte. Im Februar wurde das Mädchen dann nach Artikel 339 des Strafgesetzbuches (Hooliganismus) zu 1,5 Jahren Gefängnis verurteilt.

Julia Kascheverova hat letztes Jahr ihr Studium an der Staatlichen Medizinischen Hochschule in Witebsk abgeschlossen und Ende Juli ihre Arbeit als Krankenschwester in der 103. Fallschirmjäger Brigade angefangen. Ihr Vater Sergei Kascheverov ist ein ehemaliger Soldat, der aus der Ukraine nach Belarus zog, dort heiratete und seine Familie gründete. Seit 2013 ist er Oberstleutnant der Reserve. Die junge Frau hat keine Mutter mehr – drei Monate vor ihrer Verhaftung starb sie an Krebs, was Julia sichtlich zusetzt. Sie hat auch einen älteren Bruder – er dient dem Sonderkommando der Polizei in Minsk. Er macht sich Sorgen um seine Schwester, obwohl er es wegen ihrer Inhaftierung keine Beförderung bekommen hat.[1]

Am 4. Oktober wollte sich Julia mit einer Freundin treffen, um gemeinsam etwas einkaufen zu gehen. Als die Mädchen die Moskowski-Allee entlanggingen, sahen sie eine Kolonne von Menschen, blieben aber hinter ihr. Julias Freundin bekam einen Anruf und sie blieb etwas zurück. Julia hat sich wahllos der Menschenmenge angeschlossen. Die Polizei näherte sich den Demonstranten in der Nähe der St. Tatianas Kirche. Ein Mann wurde festgenommen, was die Demonstranten verärgerte und sie begannen ihn zu verteidigen. Die Ordnungshüter reagierten mit Pfefferspray.

Julia sah einen Mann in einer roten Jacke zu Boden fallen – er war es, den die Polizei als Organisator des Marsches bezeichnete und ihn fast festnahm. Bei der Verhandlung sagte die Krankenschwester: Er lag mit dem Gesicht nach unten, unbeweglich. Wie man es ihr im Studium beigebracht hatte, wollte Julia auf ihn zugehen um erste Hilfe zu leisten. Sie versuchte sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, aber es funktionierte nicht, da viele Leute dem Jungen helfen wollten. Die Polizei begann die Leute zu zerstreuen und das Opfer vom Boden zu heben. Das Mädchen sagt, die Gesetzeshüter hätten nicht korrekt gehandelt, nicht so, wie sie es in solchen Fällen tun sollten.

– Ich weiß nicht, was über mich kam“, erklärt Julia ihr Handeln. – Ich fühlte mich verletzt, dass ich dem Mann nicht helfen konnte. Also schlug ich auf das Auto ein. Ich hatte nicht die Absicht den Kleinbus zu beschädigen. Ich habe meine Emotionen in diesem Moment einfach auf das Auto übertragen. Es fing an wegzufahren und ich trat es zwei- oder dreimal in die rechte Seite der Hintertür. Dann hob ich einen Stock auf und warf ihn dem Polizeiwagen hinterher.

Die Krankenschwester wurde auch beschuldigt dem Bereitschaftspolizisten die Uniformmütze und die medizinische Maske vom Polizisten aus dem Gesicht gerissen zu haben. Vor Gericht leugnete Julia nicht, dass sie diese Sachen in den Händen gehalten hatte, aber sie dachte, sie gehörten dem Mann in der roten Jacke. Die Mütze war eine gewöhnliche Mütze und die Maske hatte ein Smiley-Gesicht darauf.[2]

Am selben Tag wurde das Mädchen festgenommen – als sie in die Tereshkova-Straße einbog und in ein Geschäft ging.

– Wir erhielten über Funk die Information, dass es nun notwendig sei das Mädchen in der grünen Jacke, das auf den Polizei-Kleinbus eingeschlagen hatte, festzunehmen. Wir sahen das Mädchen in den Laden gehen und warteten darauf, dass sie wieder herauskam. Dann nahmen wir sie fest und brachten sie zur Bezirkspolizeistation. Sie verhielt sich ruhig, zeigte uns ihre Dokumente, sagte aber, dass sie ohne einen Anwalt keine Fragen beantworten würde“, sagte der Zeuge der Staatsanwaltschaft – der Bereitschaftspolizist Maxim Kischkovich. Er stellte klar, dass sie einen Mann in einer roten Jacke auf der Maskouski Avenue festnahmen, der laut der Polizei der Menge zeigte, was zu tun sei. Als er festgenommen wurde, versuchte er zu fliehen, stieß aber beim Weglaufen mit einem Polizeiauto zusammen und fiel hin. Die Krankenschwester wird auch beschuldigt, dasselbe Auto beschädigt zu haben – sie soll „eine Delle oder einen Kratzer“ in der Mitte der Tür verursacht haben.[3]

– Es gibt ein Video, man kann es deutlich sehen: Sie hat den Bus dreimal getroffen, die Delle im Auto ist 2 Millimeter groß. Man hätte diese wieder mit der Faust glätten können, wie man im Russischen gerne sagt. Sie erwähnten auch die Seitentüren, die sie nicht einmal berührt hatte. Sie machten ihr vor allem vor, dass sie eine Maske vom Polizisten abgenommen hatte, aber sie hat sie nicht abgenommen“, sagte Sergej Kaschewerow, der Vater des Mädchens, empört.

Alexei Alkhimovich, Bereitschaftspolizist, dem Julia angeblich die Maske abgenommen hat, sprach bei der Verhandlung:

– Die Menge war aggressiv und brüllte. Die Leute wollten wahrscheinlich dem Mann helfen, den wir festgehalten haben. Um die Leute zurückzuhalten, haben wir Tränengas versprüht. Als wir wegfuhren, stiegen wir aus und sahen, dass die rechte hintere Tür des Transporters leicht verformt war. Später erfuhr ich, nachdem ich das Mitarbeitervideo gesehen hatte, dass ein Mädchen in einer grünen Jacke gegen den Bus getreten hatte. Sie schnappte sich auch meine Maske und Mütze und versuchte in den Polizeiwagen einzubrechen. Das Mädchen wurde festgenommen und zur Polizei gebracht. Ich habe einen Bericht über die Geschehnisse verfasst.

Julia, wie auch ihr Vater, waren mit dieser Anschuldigung nicht einverstanden.

– Dass meine Tochter jemandem die Maske vom Gesicht gerissen hat, steht nirgends geschrieben. Sie hob die Maske in der Nähe des  Wagens auf, dann ließ sie sie fallen, als das Tränengas abbekam, bevor sie die Maske ein zweites Mal aufhob. Wir haben dem Gericht das gesamte Video vorgelegt, aber das Gericht war der Meinung, dass sie die Maske abgerissen hätte. Obwohl keiner der Polizisten das gesehen hat und nicht bestätigen konnte, dass sie etwas gefilmt hat“, sagte Sergei Kascheverov.

Es ist anzumerken, dass der Prozess des Mädchens am 7. Oktober begann, aber dann wurde der Fall zur Revision zurückgeschickt und sie wurde freigelassen. Am 9. Oktober wurde ihr wegen des Vorfalls bei der Kundgebung gekündigt. Am 20. Oktober durchsuchte man ihr Haus und nahm sie fest. Sie verbrachte fünf Monate in der Untersuchungshaftanstalt, wo ihrem Vater es nicht einmal gestattet war, ihr die Bücher zu geben, um die sie gebeten hatte.[4]

Eine Strafe von 1,5 Jahren Gefängnis für Rowdytum mag vielen Menschen hart erscheinen. Allerdings forderte Staatsanwalt Vladimir Lobatski erste 6 Jahre Haft in einer allgemeinen Arbeitslager für Julia. Richter Sergei Budrevich verurteilte das Mädchen nicht nach Teil 2 des Artikels 339 (böswilliges Rowdytum in Verbindung mit Widerstand gegen eine Person, die das Rowdytum stoppt oder in Verbindung mit der Zufügung von weniger schweren Verletzungen), sondern nach Teil 1 des Artikels 339 – was zu einer geringeren Strafe führte. Darüber hinaus wurde Julias Familie zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 405 Rubel verpflichtet – bei der Verhandlung stellte sich heraus, dass der Betrag auf 841 Rubel mehr als verdoppelt wurde.

Wir glauben, dass das 22-jährige Mädchen einfach nicht mit einer solchen Wucht hätte zuschlagen können um den Polizeibus ernsthaft zu beschädigen. Die wahrheitswidrige Aussage der Polizeibeamten ist umso unverständlicher, als Julia auch im offiziellen Video keine Maske vom Polizisten gerissen und nicht in das Polizeiauto kletterte. Bleibt nur zu hoffen, dass Lukaschenkas Gesetzlosigkeit bald ein Ende hat und die 22-Jährige ihre Strafe nicht bis zum Ende absitzen muss.

[1] https://svabod1.azureedge.net/a/31122105.html

[2] https://news.tut.by/society/717751.html

[3] https://news.tut.by/society/717562.html

[4] https://charter97.org/ru/news/2021/2/26/412801/

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