Die Spaziergänge junger Frauen in weiß-roter Kleidung und mit Regenschirmen sind in Minsk, wie auch in anderen belarusischen Städten, inzwischen Tradition. Noch im Winter erlaubten Einsatzkräfte ihnen, sich frei zu bewegen, trotz der für das Regime provokanten Farben, sie wurden nur „vorsichtig aus der Ferne beobachtet“. Aber ein kürzlicher Spaziergang endete mit Verhaftungen – für eine der Frauen mit 25 Tagen Haft.

Am 6. April spazierte eine Gruppe von Minskerinnen unter weiß-roten Regenschirmen den Pobeditelej-Prospekt entlang. Die jungen Damen liefen auf den Bürgersteig, störten den Verkehr nicht, lächelten Passanten an und winkten Fotografen zu.  Am nächsten Tag berichtete die Minsker Polizei, dass die Frauen festgenommen wurden. Es wurde mitgeteilt, dass auf einer der Hauptverkehrsstraßen der Stadt ein Protest unter Verwendung von nicht registrierten Symbolen „sowie weiteren Requisiten“ abgehalten wurde.

Die Polizeibeamten identifizierten und verhafteten die Teilnehmerinnen des Spaziergangs.  Einige der Inhaftierten waren Mitglieder einer kinderreichen Familie sind, die ein Privathaus im Minsker Kreis bewohnten, das mit staatlicher Unterstützung gebaut wurde. Die Polizei teilte mit, dass während einer genehmigten Hausdurchsuchung Utensilien gefunden wurden, die mit dem Protest in Verbindung stehen.

Am Abend des 7. April wurde die 30-jährige Julja Michajlowa im Bezirk Minsk festgenommen, die zu den Spaziergängerinnen auf dem Prospekt gehörte. Sie wurde angehalten, als sie zur Bushaltestelle ging, um zur Arbeit zu fahren. Am selben Tag wurden Julias 27-jähriger Bruder Piotr und ihre 36-jährige Schwester Lilija Subach, die für zwei minderjährige Kinder verantwortlich ist, festgenommen (sie wurde später freigelassen). Die ganze Familie lebt in einem Privathaus in Priluskaja Sloboda, Kreis Minsk. Ihr Haus wurde durchsucht. Die Mutter der Inhaftierten, Tatjiana Michajlowa, wurde von den Polizeibeamten mitgenommen.

Julias Prozess fand am Tag nach ihrer Verhaftung, am 8. April, statt. Laut den Ermittlungen nahm Julja von 18:05 bis 18:20 Uhr an einer nicht genehmigten Demonstration auf dem Pobeditelej-Prospekt, als Teil einer Gruppe bestehend aus zehn Personen teil. Zum Zwecke der politischen Meinungsäußerung hielt sie einen weiß-rot-weißen Regenschirm in der Hand und rief “ Жыве Беларусь“ („Es lebe Belarus“) Als Beweis wurden Fotos aus dem Portal TUT.by vorgelegt.

Vor Gericht bat die junge Frau darum, sich mit den Unterlagen ihres Falles vertraut machen zu dürfen. Richterin Viktorija Schabunja verwehrte ihre diese Bitte,  da sie ihr eigenes Urteil bereits unterschrieben hatte. Julja begann daraufhin zu weinen – der Anwalt erklärte, dass die junge Frau im vertraulichen Gespräch gesagt habe, dass sie „angeschrien und bedroht wurde, weil sie sagte, dass sie das nur dann unterschreiben würde, wenn sie eine Kopie bekäme“. Im Übrigen war ihr Schirm tatsächlich sogar nur weiß.

Ein Zeuge in diesem Fall war der Polizeibeamte Alexander Alexandrowitsch, der unter einem geänderten Namen und anonym aussagte, dass er am 6. April zusammen mit dem Sondereinsatkommando im Zentralbezirk von Minsk im Einsatz war. Zwischen 18.05 und 18.10 Uhr beobachteten sie eine Gruppe von 10 Personen, die mit weiß-rot-weißen Regenschirmen spazieren gingen und “ Жыве Беларусь!“ riefen.

– Wir hatten keine Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um das Verbrechen zu verhindern, wir bekamen einen Einsatzbefehl und mussten wegfahren. Als wir zurückkamen, waren diese Bürger weg“, sagte der Zeuge.

Julja hat übrigens nicht bestritten, dass sie an diesem Tag auf dem Pobeditelej-Prospekt gewesen ist. Sie erkannte sich selbst auf einem Foto vom Spaziergang. Als der Richter sie fragte, warum sie zu dieser Zeit am genannten Ort gewesen sei, antwortete sie, sie sei spazieren gegangen: „Das ist doch nicht verboten“. Das Ergebnis waren 25 Tage Haft nach Artikel 24.23 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten.

Juljas Mutter Tatjana wurde nach Artikel 24.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten wegen Ungehorsam verurteilt. In der Anzeige heißt es: Die Frau stemmte bei ihrer Festnahme die Füße in den Boden und weigerte sich, zum Dienstwagen zu gehen.  Nur zur Erläuterung: Die Frau ist 56 Jahre alt, bei ihr wurde eine Lungenfibrose diagnostiziert, sie hat zeitweise Atemnot. Tatjanas Verteidiger beantragte, einen Zeugen anzuhören, der den Moment der Festnahme gesehen hatte und bezeugen konnte, dass es keinen Ungehorsam gegeben hatte. Das Gericht wies den Antrag zurück.

– Ich bin gläubig, und ich werde nicht lügen, sagte Tatiana. – Und wenn diese Person keine Angst vor Gott hat und einen Meineid leistet, ist das ihre Entscheidung. Am 7. April war ich dabei, das Haus aufzuräumen und hörte ein Klopfen an der Tür. Als es hieß: „Wir brechen die Tür auf, hier ist die Polizei“ – öffnete ich die Tür. Zehn oder fünfzehn Leute kamen herein und sie verteilten sich in der ganzen Wohnung. Zuerst suchten sie nach Menschen, dann begannen sie, mit mir durch das Haus zu gehen und jedes Regal und jeden Schränkchen zu untersuchen. Dies dauerte von etwa 15.00, 16.00 Uhr bis etwa 20.00 Uhr. Dann nahmen sie mein Telefon und sagten: Kommen Sie mit uns. Ein Mitarbeiter blieb zuruck und schrieb ein Beschlagnahmeprotokoll. Ein netter junger Mann um die 30. Ich zog mich um und wir gingen zum Auto. Unterwegs unterhielten wir uns, scherzten, mir schien, er sei ein anständiger Mensch.

Tatiana wurde zu 5 Tagen Gefängnis verurteilt.

Am 8. April wurde auch Juljas 27-jähriger Bruder Pjotr verurteilt. Er wurde auch nach Artikel 24.3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes angeklagt. Laut Anzeige hat der junge Mann in der Nähe der Polizeistation des Zentralnyj-Bezirks nach den Uniformen der Polizisten gegriffen und sich bei seiner Festnahme gegen den Boden gestemmt. Er wurde aus seinem Heimatdorf zur Polizeistation gebracht, von einer Bushaltestelle, als er gerade auf dem Weg zu einem Arzttermin war. Er sagte, dass er keinen Ungehorsam zeigte: Er ging gehorsam in das Auto zur Identifizierung und wartete ruhig auf der Polizeistation. Im Polizeibericht stand, dass Pjotr wegen des Verfahrens gegen seine Schwester festgenommen worden war. In der Verhandlung fand das folgende Gespräch zwischen dem Zeugen der Anklage – einem Mitarbeiter der Polizei – und dem Richter Dimitry Karssjuk statt:

– Ist er freiwillig in das Auto gestiegen?

– Ja.

– Warum hat er später nicht gehorcht?

– Ich kann es nicht erklären.

Piotr wurde zu sechs Tagen Gefängnis verurteilt.

Am 9. April wurden zwei weitere Mitglieder der Familie Michajlow verhaftet: Juljas und Piotrs Vater Wladimir und seine Schwester Lilija Subach. So kam es, dass die ganze Familie des Mädchens, das mit einem weißen Regenschirm spazieren ging, verhaftet wurde.

Das Verhaften von Mädchen, die einfach nur eine Straße entlang spazieren, ist der Gipfel der Absurdität in einem Polizeistaat, wo das einzige, das nicht verboten ist, der Dienst am unrechtmäßigen Herrscher zu sein scheint, und Dankbarkeit für die Bereitstellung von Grundbedürfnissen wie Unterkunft und Nahrung erwartet wird. „Unser Haus“ spricht Julja Michajlowa und ihrer Familie volle Unterstützung aus. Wir alle sind uns sicher, dass sie im neuen Belarus Gerechtigkeit erfahren werden.

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