Traditionell gehen die Belarussen am Raduniza zu den Gräbern ihrer Verwandten und Nächsten – dieser Tag ist ein offizieller Feiertag. In diesem Jahr kann man an Raduniza auch wieder den Toten gedenken, die zu den nächsten Opfern des illegitimen Regimes geworden sind. Durch die vielen Demonstrationen kennen wir ihre Namen inzwischen auswendig. Anlässlich dieses Tages des Gedenkens berichten wir über die im Jahr 2020 von Sicherheitskräften getöteten Menschen.

Alexander Tarajkowskij war der erste Belarusse, der bei Protesten ums Leben kam und dessen Tod offiziell bestätigt wurde. Er wurde am 10. August 2020 getötet. Das Innenministerium erklärte: Tarajkowskij starb durch die Explosion eines Sprengsatzes, den er auf die Polizisten werfen wollte. Zeugen berichteten jedoch: Alexander wurde von Polizeibeamten getötet, die mit Blendgranaten auf Demonstranten schossen. Es gibt ein entsprechendes Video, das zeigt, dass der Verstorbene keinen Sprengsatz in der Hand hatte. Bei der Identifizierung der Leiche konnte die Ehefrau von Tarajkowskij keine Verletzungen erkennen, die durch einen Sprengsatz verursacht worden wären. Die unabhängige Ermittlungsgruppe Conflict Intelligence Team kam zu dem Schluss, dass Spezialeinheiten der belarussischen Sicherheitskräfte in den Tod von Tarajkowskij verwickelt sein könnten. Am 19. Februar 2021 stellte das Untersuchungskomitee fest, dass der Tod von Alexander Tarajkowskij die Folge einer Penetrationswunde war, die Strafverfolgungsbehörden hätten ihre Waffen jedoch legal eingesetzt. Am nächsten Tag nach dem Tod des Minsker Bürgers bildete sich in der Nähe der Metrostation „Puschkinskaja“ eine spontane Gedenkstätte, die aber von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung schnellstmöglich entfernt wurde.[1]

Der 25-jährige Einwohner von Gomel, Alexander Wichor, starb in der Nacht vom 11. auf den 12. August auf der Intensivstation des Tuberkulosekrankenhauses in Gomel. Er wurde am Abend des 9. August festgenommen, als er zu einer Verabredung aufbrach. Auf dem Weg dorthin wurde er festgehalten und die nächsten drei Tage war nichts über seinen Verbleib bekannt. Und am 12. August wurde bekannt, dass der junge Mann verstorben war. Die Eltern selbst fanden Zeugen, die ihnen berichteten, dass Alexander in der Haft zusammengeschlagen wurde, er bat um medizinische Hilfe, aber stattdessen erhielt er weitere Schläge mit einem Knüppel und Gas aus einer Spraydose ins Gesicht. Alles wurde durch den Umstand verschlimmert, dass er Herzprobleme hatte. Nach seinem Tod sagte ein Ermittler, dass in seinem Blut Drogen gefunden wurden, aber seine Verwandten sagen, dass er nie geraucht habe. Am 16. August 2020 wurde Alexander Wichor beigesetzt.[2]

Am 16. August, nachts, starb Artjom Parukow in Minsk. Der 19-Jährige wurde auf der Partisanskij Straße von einem Auto angefahren. Das Innenministerium benannte ihn als Teilnehmer an nicht genehmigten Massenaktionen. Angehörige bezweifeln jedoch die offizielle Version der Untersuchung. Eine Cousine des Verstorbenen sagte, dass Artjom nicht an irgendwelchen Kundgebungen teilgenommen habe, sondern nur nach Hause ging. An diesem Tag gab es keine Aktionen auf der Partisanskij Straße. Aus irgendeinem Grund sah sich Artjom gezwungen, von der Straßenseite, auf der sein Haus lag, auf die gegenüberliegende zu wechselns, ohne dabei einen Fußgängerüberweg zu benutzen, der ganz in der Nähe war. Die Verwandten glauben, dass Artem versucht hat, vor irgendjemandem zu fliehen.[3]

Am 18. August wurde Konstantin Schischmakow, der 29-jährige Direktor des Militärhistorischen Museums Bagration in Wolkowysk, tot aufgefunden. Seit dem 15. August hatten seine Angehörigen nichts mehr von ihm gehört. An diesem Tag ging er nach einer Woche Urlaub wieder zur Arbeit, und rief am Abend seine Frau an und sagte: „Ich werde hier nicht mehr arbeiten.“ Er ist danach nicht mehr nach Hause gekommen. Zuvor war Konstantin in der Wahlkommission und weigerte sich, das Abschlussprotokoll mit gefälschten Zahlen zu unterschreiben, weil in seiner Anwesenheit 500 Stimmzettel zugunsten Lukaschenkas in die Wahlurne geworfen worden waren. Die Polizei fand heraus, dass Konstantins Telefon das letzte Mal in der Nähe der Stadt Mosty, 34 km von Wolkowysk entfernt, benutzt wurde. Danach wurde der Museumsdirektor am 18. August erhängt im Wald aufgefunden.[4]

Am 19. August verstarb der 44-jährige Brester Gennadij Schutow im Minsker Militärkrankenhaus. Acht Tage zuvor, am 11. August, schossen ihm Sicherheitskräfte bei einer Demonstration in den Kopf. Zuerst wurde er in das Regionalkrankenhaus Brest gebracht, dann wurde er mit einem Hubschrauber das Militärkrankenhaus in Minsk verlegt. Das Innenministerium bestätigte: Am 11. August hat die Polizei tatsächlich auf die Demonstranten geschossen, um das Leben und die Gesundheit von Polizeibeamten vor „einer Gruppe aggressiver Bürger mit Eisenstangen in der Hand“ zu schützen. Danach meldeten sich etwa hundert Bürger von Brest mit Wunden und Verletzungen bei der Polizei. Gennadij Schutow wurde posthum nach Abastz 2 Artikel 363 des Strafgesetzbuches „Widerstand gegen einen Beamten der Strafvervolgungsbehörden oder eine andere Person, die die öffentliche Ordnung überbewacht“ angeklagt. Der Angeklagte Alexander Kordjukow, der zum Zeitpunkt des Todes von Gennadij Schutow bei ihm war, sagte aus, dass sie abends bei einer Demonstration waren, wo sie zwei in Zivil gekleidete Sicherheitsbeamte ansprachen, die sie für normale Passanten hielten, und fragten, was los sei. Einer der Ordnungshüter schubste Alexander, dieser schlug zurück, woraufhin er mit einer Waffe bedroht wurde. Der Sicherheitsbeamte sagte, dass die beiden Männer verdächtig erschienen und mit ihm kämpften, so dass er gezwungen war, seine Waffe zu benutzen, wobei er nicht auf den Kopf, sondern auf die Schulter gezielt hätte.[5]

Am Abend des 22. Augusts wurde der 28-jährige Nikita Kriwtsow, ein Fußballfan aus Molodechno, erhängt in Minsk aufgefunden. Nikita galt seit dem 12. August als vermisst. Am Tag seines Verschwindens fuhr er aus Schodino, wo er mit seiner Frau und seiner Tochter lebte, für einen Teilzeitjob nach Minsk. Abends war er nicht mehr zu erreichen. Seine Frau und seine Freunde riefen verschiedene Polizeistationen an, bekamen aber keine Informationen über den Verbleib Nikitas. Es ist bekannt, dass der Fußballfan mindestens einmal an Protesten beteiligt war. Freunde schlossen nicht aus, dass er sich vor einer Verfolgung wegen Teilnahme an einer Kundgebung schützen wollte. Das letzte Mal wurde sein Telefon in der Nähe des Polizeireviers von Minsker eingeschaltet. Die Untersuchungsbeamten waren der Meinung, dass Nikita wegen der bevorstehenden Scheidung von seiner Frau Selbstmord begangen haben könnte. Einen Identifizierung der Leiche wurde verweigert. Am 23. August hielten die Fußballfans von Molodechno im örtlichen Stadion eine Abschiedszeremonie für Nikita ab.[6]

Am 1. September wurde der Tod von Alexander Budnitskij, 53, bekannt. Er arbeitete im Minsker Getriebewerk und wohnte in einem Wohnheim in der Botanichkaja-Straße, in der Nähe des Kaufhauses „Riga“. Am 11. August um 6 Uhr morgens wurde Alexander das lezte Mal gesehen, danach erschien er nicht zur Arbeit und nicht im Wohnheim. Erst am 1. September stellte sich heraus, dass er gestorben war. Nach Angaben der Innenministeriums, bat er Passanten auf der Berestjanskaja-Straße um eine Zigarette. Irgendwann wurde ihm plötzlich schlecht, er fiel hin und starb auf der Stelle. Die Todesursache war eine Vergiftung mit Ethylalkohol. Doch Ungereimtheiten in der offiziellen Version machten seine Angehörigen skeptisch. Nach Angaben der Polizei hatte er Dokumente bei sich und seine Identität wurde sofort festgestellt – aber die Angehörigen wurden erst am 1. September informiert, und seine Vermisstenanzeige war nicht bearbeitet worden. Alexanders Bruder sagte, niemand habe ihn über den Tod seines Bruders informiert, er habe selbst diverse Polizeistationen abtelefoniert und herausgefunden, dass die Leiche in der Nähe des Kaufhauses „Riga“ gefunden worden sei, wo es in den ersten Tagen nach den Wahlen große Proteste gab. Die Leiche wurde den Angehörigen in einem Leichensack übergeben, und Alexander wurde in einem geschlossenen Sarg beigesetzt.[7]

Der Tod des 31-jährigen Roman Bondarenko am 12. November hat eine besonders starke Reaktion in der Bevölkerung hervorgerufen. Er lebte in Minsk in einem Haus am „Peremeny-Platz“. An dem schicksalhaften Abend vor seinem Tod sah er auf dem Platz Menschen in Zivil und mit Masken, die dort aufgehänte weiß-rot-weiße Bänder abnahmen. Anwohnende kamen herbei, um herauszufinden, was los war, und es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen einem der nicht identifizierten maskierten Männer und einem der Anwohnenden. Roman ging dazwischen, woraufhin der Unbekannte ihn packte und zur Seite warf, so dass der 31-Jährige mit dem Kopf aufschlug. Roman wurde dann in einen Kleinbus gesetzt und weggebracht. Die Nachbarn riefen bei der zentralen Polizeistation an, wo man ihnen mitteilte, dass Raman begonnen hatte, sich schlecht zu fühlen. In der Nacht des 12. Novembers wurde er aus der zentralen Bezirkspolizeistelle ins Krankenhaus gebracht. Seine Verwandten wurden zu ihm gelassen – er war mit blauen Flecken und Verbänden übersäht, sein Zustand wurde als sehr ernst bezeichnet, er fiel ins Koma. Das Innenministerium nannte den Vorfall eine nachbarschaftliche Auseinandersetzung und sagte, dass Roman Bondarenko betrunken war und einen Streit provoziert hat. Auf einer Aktion im Gedenken an Bondarenko am 15. November wurden die Journalistinnen Katerina Andrejewa und Darja Chultsowa festgenommen. Wenig später wurden der Arzt Artjom Sorokin, der die Information, dass Roman Alkohol im Blut hatte, widerlegte, und die Journalistin Katerina Barisewitch, die diese Worte in ihrem Artikel zitierte, ebenfalls in Gewahrsam genommen.[8]

Es gibt viel mehr Tote durch die Hand der illegitimen Machthaber, als wir hier beschrieben haben, und mehr, als man sich vorstellen kann. Genannt werden müssen hier die Namen des Vorsitzenden der zentralen Wahlkommission Wiktor Gontschar, des Geschäftsmannes Anatol Krassowskij, des Innenministers Jurij Sacharenko und des Journalisten Dimitrij Zawadskij, die Lukaschenka vor über 20 Jahren beseitigen ließ, um ihn nicht am Aufbau einer Diktatur in Belarus zu hindern. Er tötete auch die unschuldigen Vladislaw Kowaljow und Dmitrij Konowalow, die beschuldigt wurden, einen Terroranschlag in der Minsker U-Bahn verübt zu haben und erschossen wurden. Auf Lukaschenkos persönlichem Friedhof stehen die Namen aller Menschen, deren Herz in Folge einer Coronavirus-Infektion aufhörte, zu schlagen, in Folge falscher Behandlung und medizinischer Fehler, die Namen aller Gefangenen, die im Gefängnis gestorben sind, die Namen derer, die zu Unrecht hingerichtet wurden. Wir würden gerne glauben, dass diese Liste nicht noch länger werden wird und dass Lukaschenka und sein Umfeld in sehr naher Zukunft für ihre Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden.

[1] https://news.tut.by/society/719630.html

[2] https://www.the-village.me/village/city/news-city/285741-expertiza

[3] https://euroradio.fm/ru/rodstvenniki-ne-veryat-v-versiyu-smerti-artema-parukova-kotoruyu-izlozhila-miliciya

[4] https://meduza.io/feature/2020/08/19/v-belarusi-nashli-mertvym-29-letnego-direktora-muzeya-konstantina-shishmakova

[5] https://www.b-g.by/news/v-breste-sudyat-aleksanda-kordyukova-kotoryiy-byil-vmeste-s-gennadiem-shutovyim-kogda-togo-smertelno-ranili-onlayn/

[6] https://meduza.io/feature/2020/08/24/v-minske-nashli-poveshennym-futbolnogo-fanata-nikitu-krivtsova-on-byl-poslednim-v-spiske-propavshih-posle-aktsiy-protesta

[7] https://belsat.eu/ru/news/umer-v-noch-protestov-rodstvenniki-uznali-cherez-19-dnej-chto-izvestno-o-smerti-aleksandra-budnitskogo/

[8] https://www.currenttime.tv/a/belarus-roman-bondarenko/30944911.html

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