Der erste Tag des Sommers brachte den Belarussen leider wieder einmal traurige Nachrichten. Der 41-jährige Stepan Latypow, Anwhohner des „Platzes der Veränderungen“, sprang während seiner Gerichtsverhandlung auf eine Bank, um zu verhindern, dass Wachen an ihn herankommen konnten und steckte sich einen Stift in den Hals. Er musste in ein künstliches Koma versetzt werden und wurde ins Krankenhaus gebracht. Während der Verhandlung berichtete Stepan, dass die GUBOPIK (Zentrale Behörde für den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität) ihm damit gedroht hätte, auch seine Familienangehörigen und Nachbarn anzuklagen, sollte er sich nicht schuldig bekennen.
Stepan Latypow, Direktor des Unternehmens „Belarbo“, wurde am 15. September 2020 festgenommen. An diesem Tag bewachte er ein kleines Haus mit einem Bild der „DJs of Change“ vor Ordnungshütern, die kamen, um das Wandbild zu übermalen. Er forderte von den unbekannten Personen in Zivil und mit Maske, sich auszuweisen; daraufhin wurde er festgenommen und in ein Auto gezerrt. Ihm wurden Verletzungen der § 1, 2 des Artikels 342 im Strafgesetzbuch wegen der Organisation eines Hof-Telegramm-Chats und die Durchführung von Workshops zur Herstellung von Protestsymbolen sowie Verletzung von Artikel 363 Strafgesetzbuch – Widerstand gegen Polizeibeamte – vorgeworfen. Außerdem wurde er wegen Irreführung von Kunden bei der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Pflanzenvernichtung angeklagt (Artikel 209 Teil 4 des Strafgesetzbuches). Nach seiner Verhaftung wurde die Wohnung von Stepan Latypow durchsucht und am 19. September berichteten die staatlichen Massenmedien, dass Stepan illegale Lieferungen von Chemikalien nach Belarus organisiert hätte, mit denen er Polizisten vergiften wollte. Diese Annahme blieb dann aber während seines Prozesses plötzlich wieder unerwähnt.
Zur Verhandlung erschien Stepan Latypow mit Schwellungen im Gesicht und Blutergüssen unter den Augen, während an seinem linken Arm ein Verband unter dem Ärmel hervorguckte und er ein Pflaster am Finger trug. Die bei der Verhaftung von Stepan am 15. September „verletzten“ Polizeibeamten verhedderten sich bei ihren Aussagen und konnten sich nicht entscheiden, ob Stepan sie nun geschlagen hatte oder es nur versucht hatte. Nachdem die Polizisten befragt worden waren, die übrigens erklärten, dass sie keinerlei Ansprüche an den Angeklagten hätten, wurde Stepans Vater zur Befragung vorgeladen. Die letzten Worte des politischen Gefangenen vor seinem Selbstmordversuch waren an seinen Vater gerichtet: „Nach deinem Besuch kam die GUBOP zu mir und drohte, dass ihr in die „press-hata“ (eine Folterkammer, in welcher Insassen zum Gestehen gebracht werden) kommen werdet, wenn ich mich nicht schuldig bekenne und Strafverfahren gegen meine Familienangehörigen und Nachbarn angestrebt werden würde. Ich war in dieser „Folterkammer“ bereits 51 Tage lang. Mach dich also bereit…“.
Nach der Befragung seines Vaters stellte sich Stepan auf eine Bank im Käfig, um zu verhindern, dass die Wärter ihn erreichen konnten, und steckte sich einen Stift in den Hals. Er lief blau an und legte sich auf die Bank, aber erste Hilfe Leistungen blieben aus. Die Wachen begannen erst, die Leute aus der Halle zu jagen und dann nach den Schlüsseln für den Käfig zu suchen. Als er aus dem Gerichtssaal in die Ambulanz getragen wurde, war er bereits bewusstlos. Jetzt ist er nach einer Operation im Krankenhaus.
Es ist nicht viel darüber bekannt, was mit Stepan im Gefängnis passiert ist. Am 12. Januar 2021 sagte sein Anwalt, Stepan sei „ein starker Mann, der sich gut hält. Auf Briefe antwortet er mit Verspätung, aber immer“. Im Namen von Latypow bedankte sich sein Anwalt bei allen, die den politischen Gefangenen unterstützen, und merkte an, dass dies sehr wichtig für ihn sei. Seit dem 11. April wurde Stepan zusammen mit Menschen mit geistiger Behinderung in einer Strafzelle gehalten.
„Unser Haus“ fordert ein sofortiges Ende des Drucks der auf politische Gefangene ausgeübt wird. Wir fordern die Freilassung von Stepan Latypow und allen anderen Gefangenen des Lukaschenko-Regimes sowie die Einstellung der schändlichen „Prozesse“ gegen friedliche Belarussen. Nach dem Abgang des Diktators versprechen wir, all diejenigen zu bestrafen, die sich der Quälerei an politischer Gefangener schuldig gemacht haben.