Ungleiche Verhältnisse. Nichts beschreibt die Lebenssituationen der Belarusen besser als diese zwei Worte. Während man in einigen Regionen des Landes monatlich durchschnittlich umgerechnet knapp 650€ verdient, kämpft man in anderen Regionen mit einem Durchschnittsgehalt von 200€ ums Überleben. Ende 2020 lagen etwa 5 Prozent (was etwa einer halben Million Menschen entspricht) der Belarusen unter der Armutsgrenze. Von diesen sind fast 1,5 Prozent der Einwohner des Landes gezwungen, mit weniger als 200 Rubel (€ 65) pro Monat auszukommen. Am 31. Mai war die Internationale der Tag gegen Armut und Ungleichheit. Wir berichten deswegen, wie „Unser Haus“ gegen die Armut in Belarus ankämpft.

2015 hatte „Unser Haus“ angefangen dem Thema Armut noch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Das Team organisierte zu diesem Zeitpunkt eine Konferenz und Podiumsdiskussion zum Thema „Ansätze zur Messung der Armutsverhältnisse in Belarus und die Digitalisierung mit sozialer Perspektive“. Olga Karatch nahm an der Veranstaltung teil, wie der Journalist Denis Lavnikevich und die öffentliche Verwaltungsexpertin Inna Romashevskaya.

Olga Karatch trug dort die wichtigsten finanziellen Probleme von Belarus vor: die Unfähigkeit, einen Job in den Provinzen zu finden, die Entlassung einer großen Anzahl von Spezialisten. Auf der Konferenz schlug Olga Karatch Möglichkeiten zur Lösung dieses Problems vor: Reindustrialisierung der „Armutsgürtel“, Modernisierung bestehender Unternehmen, Förderung von kleineren Unternehmen in ärmeren Gebieten, räumliche Trennung der öffentlichen Verwaltung im ganzen Land und die Errichtung eines unabhängigen Offshore-Finanzzentrums.

Im Jahr 2016 schlug „Unser Haus“ ein Programm zur Überwindung der Armut in Belarus vor, das auf den Meinungen von Experten und Daten der zuständigen Ministerien basiert. Laut dem Programm befinden sich viele Belarusen unterhalb der Armutsgrenze, obwohl sie gewissenhaft arbeiten. Denn das Wirtschaftssystem des Landes garantiert nicht, dass harte Arbeit belohnt wird. Die Gründe dafür sind die übermaßende Bürokratie und die vertikale Machtstruktur, die negative Einstellung zum Unternehmertum, das Fehlen von wichtigen Sozialstrukturen, die allgemeine Unrentabilität der meisten Industrieunternehmen (insbesondere in den Provinzen) und der gesamte Agrarsektor. Das Programm widmet sich auch noch anderen Problemen: Personalmangel, veraltete Ausrüstung in Unternehmen, niedrige Gehälter und die Kürzung von Arbeitsstellen.

Der vom Wirtschaftsministerium entwickelte Richtlinienentwurf zur Förderung des Unternehmertums besagt: „Von den 118 Regionen der Republik werden 115 subventioniert, von denen in 53 Regionen die Höhe der Subventionen 50% der Einnahmen ihres Haushalts übersteigt. Dieser Zustand zeugt von der Schwäche der Regionalpolitik“. Die Bezirke haben keine Entwicklung von Indikatoren für das Einkommen oder Bruttoprodukt. Es gibt einen Abgang von jungen Menschen und hochqualifizierten Spezialisten aus kleinen Städten, und infolgedessen bleiben ineffektive und initiativarme Menschen, Rentner und Alkoholiker dort. Das Ergebnis ist die Verschlechterung der sozialen Verhältnisse und die Entstehung von „Armutsgürteln“, die besonders deutlich in der Region Minsk zu sehen ist. Die höchsten Gehälter sind in Minsk und den umliegenden Bezirken Smolevichi und Dzerzhinsk zu finden. Lukaschenko mag den Ausdruck „Armutsgürtel“ jedoch nicht sehr, so dass dieses Theme bei Treffen eher nicht auftaucht.

Dabei ging es „Unser Haus“ auch nicht nur um die wirtschaftlichen und finanziellen Komponenten der Armut, sondern auch die psychologische Herangehensweise der Belarusen. In Krisenzeiten sind die Ärmere meist eher passiv und bevorzugen es, Lebensmittel von ihrem eigenen Grund und Land anzusammeln und zu essen, anstatt nach einem neuen Job zu suchen oder ein Unternehmen zu gründen. Der Staat genehmigt diesen Ansatz: Eine Bevölkerung, die nicht zu viel benötigt, ist einfacher zu verwalten. Staatliche Unternehmen können eine große Anzahl von Mitarbeitern haben, bei denen die Spitzenkräfte hohe Gehälter bekommen und die einfachen Arbeiter knapp einen Cent verdienen und folglich minderwertige Produkte produzieren, die auch auf dem Markt gar nicht benötigt werden. Es ist ein Teufelskreis.

„Unser Haus“ hat daraufhin auch mehrere Aktionen zur Überwindung der Armut in Belarus vorgeschlagen. Unter ihnen-die Platzierung neuer Unternehmen in Gebieten im „Armutsgürtel“, vermehrte Baumaßnahmen in dieser Region (welche neue Arbeitsplätze schaffen würden), die Übernahme der Re-Industrialisierungspolitik von erfolgreichen Unternehmen. Es ist auch möglich, Unternehmen zu modernisieren und gleichzeitig die „soziale“ Komponente zu erhalten, an der viele Belarusen festhalten, den Ansatz zur Berechnung des Arbeitslosengeldes zu ändern, kleine Unternehmen in armen Gebieten zu fördern und dort unabhängige Offshore-Zentren zu schaffen.

Im Jahr 2017 schrieb Olga Karatch in Kolumnenteil unserer Website, dass Armut in Belarus häufiger bei alleinerziehenden Frauen auftritt. In den Provinzen steht ihnen nur sehr harte Arbeit mit sehr niedrigen Löhnen zur Verfügung. Die anderen Optionen ist entweder umschulen oder sogar wegziehen. Aber das ist schwierig, denn die Kinder müssen ja ernährt werden. Die Frauen sind gefangen. Und dann gibt es noch den Staat, der Kinder einfach wegnimmt und Mütter zum Zahlen zwingt. Sie fordern eine Verpflichtung zur Erstattung öffentlicher Ausgaben. Im Wesentlichen eine monatliche Steuer. Anstatt der Familie zu helfen, begraben Beamte durch ihre Handlungen die unglückliche Frauen immer tiefer. Armut in der Provinz bedeutet, dass Kinder aus fast jeder Familie in einem Waisenhaus landen können.

Im selben Jahr sprach „Unser Haus“ über die Situation der Roma in Belarus. Diese Kategorie der Bevölkerung ist am häufigsten von Armut betroffen. Aufgrund von Stereotypen werden sie nicht eingestellt. Viele von ihnen haben keine Dokumente, können weder lesen noch schreiben. Sie sind gezwungen, sich vor Strafverfolgungsbehörden zu verstecken. Aus Geldmangel können sie keine Steuern zahlen, und wenn sie zahlen, geraten sie sofort in die Falle und fragen, woher das Geld kommt und gehen ins Gefängnis. Nur wenige erhalten eine höhere Ausbildung und können in ihrem Leben weiterkommen.

Im Jahr 2020 hat sich „Unser Haus“ wieder vermehrt dem Problem der Armut in Belarus gewidmet. In dem Bericht über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Rechtsstaatlichkeit und Probleme des Justiz-und Strafvollzugssystems von Belarus, der an den UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Belarus geschickt wurde, haben wir angesprochen, wie die Kinder von Eltern weggebracht werden, die unterhalb der Armutsgrenze leben. „Die Bereitstellung von Sozialhilfe für Familien wäre ein geeigneterer Weg, um mit der Situation umzugehen. Wenn ein Kind aus seiner Familie genommen wird, wird es stattdessen in eine soziale Einrichtung (Waisenhaus) gebracht, und die Eltern müssen monatliche Zahlungen an den Staat leisten. Die durchschnittlichen Kosten für den Aufenthalt eines Kindes in einem Waisenhaus betragen 220 BYN (entspricht 91 Euro). Durch die Entfernung von Kindern können Regierungsbehörden auch Zahlungen an große Familien abschaffen. Dies führt zu Situationen, in denen Menschen Angst haben, in einer Krisensituation Hilfe von sozialen Diensten zu suchen, da die Gefahr besteht, dass ihre Kinder aus der Familie entfernt werden“, heißt es in dem Bericht.

Die aktuelle Situation in Belarus lässt keinen Optimismus aufkommen. Trotz der Unterstützung durch Russland für Lukaschenka wird die Bevölkerung unseres Landes schnell ärmer. Immer mehr Regionen sind mit Gehaltsverzögerungen konfrontiert. Es ist fast unmöglich, ein Unternehmen in Belarus zu eröffnen und es waren auch die Unternehmer, die 2020 gegen die Macht des Diktators protestierten. Auf der allrussischen Volksversammlung gab Lukaschenko eine Reihe von Erklärungen ab, die an Privatunternehmen gerichtet waren. Hier sind einige Zitate: „Wenn Sie viel verdient haben, helfen Sie viel“, „Wir werden alle möglichen Kleinunternehmer zur Besinnung bringen“, „Es wird keinen Genuss für Sie geben“, „Wir schneiden euch aus wie einen Betonklotz“. Sie müssen kein Hellseher sein, um zu erraten: Alle Menschen, die etwas mehr als ein Stück Brot verdient haben, sind für den Staat von großer Interesse.

Lukaschenko versuchte alles, damit belarussische Waren im Ausland nicht wettbewerbsfähig waren und die Menschen keine anderen Wünsche hatten, als die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Aber im Jahr 2020 änderte sich alles und die Belarusen erhoben den Kopf. Wir hoffen, dass nach dem Sturz von Lukaschenko das belarussische Unternehmertum florieren wird. Wir glauben, dass im neuen Belarus jeder nicht eine Handreichung, sondern eine anständige Belohnung für seine Arbeit erhalten kann, sodass viel weniger Menschen darüber nachdenken müssen, was sie morgen mit ihren Kindern zu Essen geben können und wohin sie sich gehen sollen, damit sie ein ordentliches Leben erwartet.

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