Am 10. August 2020 wurde das Leben der eigentlich gewöhnlichen Pinsker Familie Movshuk, auf den Kopf gestellt. Elena, 44, und ihr Ehemann Sergei beschlossen, in die Stadt zu gehen. Noch in derselben Nacht wurden sie festgenommen – seitdem sitzt Elena hinter Gittern. Ihre jüngsten Kinder, die 11-jährige Angelina und die 5-jährige Karina, landeten in einem Waisenhaus. Als Elena ihr Urteil – sechs Jahre im Gefängnis – vor Gericht hörte schrieb sie in ihr Notizbuch: „Ich werde mich erhängen.“

Am 9. und 10. August 2020, kam es in Pinsk zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. In der ersten Nacht nach dem sogenannten Sieg von Alexander Lukaschenko blockierten Anwohner das Gebäude des Exekutivkomitees des Bezirks Pinsk und forderten eine ehrliche Stimmenauszählung. Die Sicherheitskräfte kamen heraus, um sie zu konfrontieren. Die Demonstranten versuchten mit ihnen zu verhandeln und überredeten sie, ihre Schilde niederzulegen, aber die Polizei umzingelte sie. Dann begannen sich die Menschen zu verteidigen: Steine, Stöcke, Bretter von Bänken, Pflastersteine wurden verwendet. Elena Movshuk gehörte dabei zu den friedlichen Bewohnern von Pinsk.

Elena arbeitete als Assistenzköchin im Pinsker Krankenhaus und kümmerte sich um ihre Familie. Sie hat fünf Kinder: Olga, Denis, Julia, Angelina und Karina. Olga, Denis und Julia sind inzwischen erwachsen, Angelina ist 11. Karina, 5, ist auch die Tochter von Sergei Movshuk, den Elena vor sechs Jahren geheiratet hat. Es war Sergey, der die Situation im Land in ihrer Familie verfolgte: Er las die Nachrichten, liebte es, über politische Themen zu spekulieren. Er hatte die Idee sich auf den Weg in die Stadt zu machen, kurz bevor das Paar dort festgenommen wurde.

Am Abend des 9. August gingen Sergey und Elena ins Zentrum von Pinsk, zum Lenin-Platz. Sergei erinnerte sich später: Viele Leute versammelten sich dort, die anfingen zu schreien „Schande!“, „Weggehen“. Dann begannen die Sicherheitskräfte, auf die Menge zu marschieren-friedliche Belarusen zogen sich in eine kleine Straße zurück. Elena und Sergey schlossen sich den an. Aber sie konnten nicht entkommen: Ihr Weg wurde von Garagen mit Stacheldrahtzaun blockiert. Elena konnte den Zaun nicht erklimmen, und Sergei blieb mit seiner Frau auf dem Boden. Beide wurden festgenommen, aber Sergei wurde nach 17 Stunden wieder freigelassen, Elena nicht.

Beim Verlassen der Polizeistation versuchte ihr Mann, Informationen über seine Frau zu erhalten. Am 14. August 2020, vier Tage nachdem Elena in den Händen der Sicherheitskräfte war, gab es mehr Informationen, jedoch wurde die Situation nicht deutlich klarer. Die neuen Nachrichten waren einer Frau zu verdanken, die eine Zelle mit der Mutter von fünf Kindern teilte. Die Pinskerin erzählte: Elena wurde nackt, barfuß und deutlichen Wunden zu ihnen gebracht. Nach der Einzelzelle in Pinsk wurde Elena in das Untersuchungsgefängnis in Baranovichi verlegt.

„Ich wurde in eine Art Register eingetragen, da ich angeblich vorhabe, die Regierung zu stürzen und dabei aggressiv vorgehen würde… Horror! Ich weine jeden Tag. Das ist so ein Schwachinn. Ich kann nicht weitermachen, ich kann nicht mal darüber reden… Ich bin im Gefängnis und der Ermittler ruft mich nicht an, und es scheint nichtmal eine konkret Anklage zu geben, ich weiß nicht, was los ist“, schrieb sie ihrem Ehemann.

Während der Untersuchungshaft durchlebte Elena alle „Freuden“ des belarussischen Strafvollzugssystems. Sie verlor Gewicht in ihrer Zelle, wurde krank und beklagte sich in ihren Briefen, dass ihre Beine schwach wurden. Die politische Gefangene gestand, dass es für sie unmöglich war zu essen, sie schüttete es immer in die Toilette.

Im Rahmen des Strafverfahrens nach Artikel 293 Teil 2 des Strafgesetzbuches (Massenunruhen), das „Pinsk“ genannt wird, wurden neben Elena und Sergei zwölf weitere Einwohner von Pinsk festgenommen. Alle von ihnen wurden angeblich auf dem Video identifiziert, das zum Hauptbeweis der Staatsanwaltschaft wurde. Es ist unmöglich, es im Internet anzusehen – es wurde gelöscht. Opfer in dem Fall sind 109 Polizisten, die von den Demonstranten verletzt wurden. 72 Polizisten forderten insgesamt 380 Tausend Rubel Entschädigung für „psychisches Leiden“, nämlich Schlafverlust, Appetit, Angst, Demütigung, Schmerz und Scham aufgrund der erlebten Ereignisse.

Der Prozess gegen die Angeklagten im Fall Pinsk begann am 23. März. Elena Movshuk wurde beschuldigt, am 9.August 2020 einen Stock auf in Richtung der Polizisten geschwenkt und Schilde geschlagen zu haben, was in dem Video auch zu sehen ist. Elena bestreitet das nicht: Ja, sie hat mehrmals zugeschlagen, aber erst nachdem sie selbst mit einem Schlagstock getroffen wurde. In ihren Briefen betonte die Frau, dass sie Gerechtigkeit wollte und bereit war, dafür zu antworten, dass sie auf dem Platz war und die Sicherheitskräfte zurückwies. Aber sie ist nicht bereit, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, da ihr auch Absprachen mit anderen zugeschrieben wurde, obwohl Elena diese schlichtweg nicht kannte.

Das Urteil in dem Fall wurde am 30. April verkündet. Der Richter Jewgeni Bregan verurteilte Elena zu 6 Jahren Gefängnis, weil sie angeblich an den Unruhen teilgenommen hatte. Selbst Reue und Bitten um Nachsicht retteten sie nicht, auch nicht das sie minderjährige Kinder hat. Ihr Ehemann Sergei erhielt 6,5 Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis. Nach der Urteilsverkündung schrieb Elena in ihr Notizbuch „Ich werde mich aufhängen“ und zeigte es dem Publikum.

Die 19-jährige Tochter Julia macht sich Sorgen um ihre Mutter und versucht, so gut sie kann, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die junge Frau hat bereits eine eigene Tochter-Elenas Enkelin. Die politische Gefangene freute sich sehr auf die Geburt ihrer Enkelin und sprach mit ihr, auch bevor sie geboren wurde. Wegen ihrer Inhaftierung bekam Elena die kleine Sofia nie zu sehen. Sie wird auch ihr zweites Enkelkind nicht sehen, welches kurz vor der Geburt steht. Bisher kann die politische Gefangene nur für ihre Familie Großmütterliche Papierherzen von hinter den Gittern schicken.

Die jüngeren Kinder von Elena Movshuk haben ihre Mutter seit ihrer Verhaftung nicht mehr gesehen. Am 17. September 2020 kamen die Vormundschaftsbehörden für die Schülerin Angelina und brachten sie ins Waisenhaus. Zu dieser Zeit war Sergei Movshuk noch auf freiem Fuß, aber Angelina konnte nicht bei ihm gelassen werden, da er nicht ihr Vater war. Dann wurde das Mädchen von der Patin zu ihr gebracht. Angelina sagt ständig, dass sie ihre Mutter vermisst und glaubt, dass ihre Mutter nichts Kriminelles getan hat.

Die fünfjährige Karina vermisst auch ihre Mutter. Das Mädchen wurde im April 2021 aus der Kita gebracht, an dem Tag, an dem der Staatsanwalt im „Fall Pinsk“Bedingungen für die Angeklagten beantragte. Sie fanden eine Vormundfamilie für das junge Mädchen unter den Bekannten von Elena und Sergei, jetzt werden Dokumente für das Sorgerecht für das Mädchen vorbereitet. Sie versteht immer noch nicht, was Gefängnis ist und warum ihre Mutter so lange nicht zu ihr kommt.

Das wichtigste und schwierigste Thema für die Familie ist die Notwendigkeit, den „verletzten“ Polizisten eine Entschädigung zu zahlen. Gewöhnliche Arbeiter und Arbeiterinnen haben dafür nicht genug Geld und können es auch nirgendswo hernehmen. Es gibt keine Hoffnungen, dass ihre Strafe gemildert wird, aber laut ihrer Tochter Yulia wird Elena trotzdem eine Bitte um Begnadigung schreiben.

„Unser Haus“ drückt Solidarität mit allen tapferen Einwohnern von Pinsk aus, die keine Angst hatten, in der ersten Nacht nach den Wahlen gegen die Polizisten zu protestieren. Menschen, die um ihre Stimmen kämpften und vom Staat grausam getäuscht wurden, verdienen die hohen Strafen, zu denen sie vor Gericht verurteilt wurden, nicht. Und noch mehr verdienen ihre Kinder kein Leiden, während sie auf ihre Väter und Mütter aus dem Gefängnis warten und in Waisenhäusern und Pflegefamilien leben müssen. Die wahren Schuldigen des Vorfalls sind die Diener des Lukaschenko-Regimes, und wir glauben, dass sie nach dem Sieg des belarussischen Volkes für alle Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, die sie auch nach derzeitigem Recht begangen haben.

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