Minderjährige Häftlinge in Belarus und wie sie als billige Arbeitskräfte in Strafkolonien missbraucht werden

Das Menschenrechtsnetzwerk Nash Dom, zu Deutsch „Unser Haus“, setzt sich ein für die Interessen der belarussischen Bürger*innen und ist mit rund 20 Gruppen in mittlerweile mehr als 15 Städten und Gemeinden in Belarus aktiv. Das Netzwerk organisiert öffentliche Kampagnen, unterstützt Aktivist*innen, wenn diese Opfer von staatlicher Repression und Gewalt werden und deckt immer wieder Missstände in der belarussischen Politik auf. Mit diesem in unregelmäßigen Abständen erscheinenden Newsletter informiert Nash Dom auch die deutschsprachige Öffentlichkeit über seine Arbeit.

Der folgende Bericht ist ein Ergebnis der von Nash Dom initiierten und durchgeführten Kampagne „Keine Kindersache“. Ziel dieser Kampagne war und ist, die schweren Verletzungen der Kinderrechte durch staatliche Behörden in Belarus aufzudecken und damit die Rechte der Kinder vor ihrem eigenen Staat zu schützen. Insbesondere im Bereich Rechtsprechung und Strafvollzug sind in Belarus massive Verletzungen von Kinderrechten zu beobachten.

Im Laufe der letzten Monate haben sich die Eltern und Verwandten von 29 minderjährigen Jugendlichen im Alter von 16-17 Jahren an unsere Organisation gewandt. Diese Jugendlichen wurden Opfer massiver Verletzungen ihrer Rechte seitens des Staates: durch Mitarbeiter*innen der Polizei, der Ermittlungsbehörden, der Staatsanwaltschaft, der Gerichte und des gesamten Strafvollzuges. Die Liste dieser 29 Kinder mit detaillierten Beschreibungen der Fälle liegt uns vor und wir sind bereit, diese Liste potentiellen Interessierten zukommen zu lassen. In allen Fällen geht es um minderschwere Drogendelikte, die den Kindern in vielen Fällen angehängt wurden bzw. zu denen sie durch Erwachsene verleitet wurden.

Wir möchten unsere Besorgnis und die Zahlen, die wir aus dem uns vorliegenden Material zusammengestellt haben, mit Ihnen teilen. Diese Zahlen und Fälle muss die internationale Öffentlichkeit kennen:

  • Die erwähnten 29 Kinder wurden zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt 270,6 Jahren verurteilt – für den Besitz von insgesamt 43,85 g Drogen.
  • Vier von ihnen müssen für insgesamt 38,8 Jahre ins Gefängnis – für den Besitz von 0,00 g (Null Gramm!) Drogen.
  • Bei 18 der 29 Kinder wurden die Erziehungsberechtigten weder über die Festnahme noch über die anschließenden Verhöre in Kenntnis gesetzt.
  • 23 der 29 Kinder wurden bei der Festnahme durch die Polizei auf verschiedene Weise misshandelt. Dazu gehören Schläge, Handschellen, Einschüchterungen, Erpressungen, Drohungen und die Verweigerung von medizinischer Hilfe.
  • Während der Festnahmen wurde in 68-75% der Fälle keine medizinische oder andere Hilfe Infolgedessen mussten einige Kinder auf der Intensivstation behandelt werden. Die mangelnde medizinische Versorgung besteht für die Inhaftierten sowohl vor als auch nach dem Gerichtsverfahren fort.
  • Drei der 29 Kinder wurden durch Gewalt und Drohungen der Polizist*innen gezwungen, als Provokateur*innen Drogen an andere Kinder und Erwachsene zu verkaufen.
  • In keinem der 29 Fälle wurde ein Gerichtsverfahren gegen die Erwachsenen, die die Kinder in den Drogenhandel einbezogen hatten, eingeleitet. In keinem der 29 Ermittlungsverfahren haben die Behörden versucht, diese erwachsenen Personen überhaupt zu identifizieren. Auch hat das Gericht den Einfluss der Erwachsenen auf die Kinder nicht als mildernden Umstand berücksichtigt. Der Staat schickt lieber die Kinder ins Gefängnis, als gegen die erwachsenen Hintermänner und ‑frauen vorzugehen.

Das Schlimmste jedoch ist, dass bei den meisten Strafverfahren die Schuld der Kinder unseres Erachtens nicht bewiesen worden ist. In allen Phasen des Strafprozesses aller 29 Kinder wurden die Grundsätze des erhöhten Rechtschutzes von Minderjährigen im Strafverfahren nicht realisiert – damit sind die ausgesprochenen Urteile rechtswidrig!

Doch wie kann das alles sein? Welches Interesse hat der belarussische Staat, Minderjährige systematisch ins Gefängnis zu bringen? Es ist uns sehr wichtig, die Hintergründe dieses Missstands zu umreißen.

Missbrauch von Häftlingen als billige Arbeitskräfte

Alles begann am 4. Dezember 2014. Präsident Alexander Lukaschenko berief eine Sitzung ein, die den Fragen des illegalen Drogenhandels gewidmet war. Um dem entgegenzuwirken, verlangte er, die Verurteilten in spezielle Strafkolonien zu schicken. In diesen Kolonien sollten unerträgliche Bedingungen geschaffen werden, sowohl für Drogendealer*innen als auch für Drogensüchtige. „Ansonsten gehen sie gerne ins Gefängnis, 10 bis 15 mal, als wäre es ein Sanatorium“, so der Präsident.

Nach dem Aufruf des Präsidenten wurden massenhaft Kriminalgerichtsverfahren nach Artikel 328 des Strafgesetzbuches (Drogendelikte) eingeleitet, auch und gerade gegen Minderjährige. Die genaue Anzahl der Verurteilten ist unbekannt, verschiedene Expert*innen sprechen jedoch von 14.000 bis 17.000 verurteilten Personen. Und diese Menschen sind nicht nur für viele Jahre Gefangene, sie sind während dieser Zeit auch eine willkommene wirtschaftliche Ressource.

Belarussische Gefängnisinsassen müssen arbeiten – und zwar unter härtesten Bedingungen und nahezu unbezahlt. Ihr Lohn beträgt zwischen null und drei Euro – pro Monat. Die Erzeugnisse, die mit den Händen der Häftlinge produziert werden, werden in 21 Länder exportiert, einschließlich Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Viele Industriebranchen profitieren stark von der Arbeit der Häftlinge, so z.B. die holzbearbeitende Industrie, die metallverarbeitende, leichte und Nahrungsmittelindustrie, der Autobau und oder die Fertigung von Sportausrüstungen. Die Namen der Unternehmen, in denen die Häftlinge tätig sind, werden geheim gehalten. Eine öffentliche Kontrolle über die Geldmittel, die durch die Häftlinge erwirtschaftet werden, gibt es nicht. Die spärlichen Informationen, die es dazu gibt, werden nur dank der Bemühungen von Aktivist*innen und unabhängigen Journalist*innen bekannt.

Wer diese Hintergründe kennt, dem wird auch klar, warum der belarussische Staat keinerlei Interesse daran hat, dem Problem der Drogenkriminalität in Belarus ernsthaft zu begegnen. Warum er im Gegenteil sogar bestrebt ist, immer mehr Gerichtsverfahren gegen junge Leute einzuleiten und diese unter allen Umständen zu verurteilen: Sie sind perfekte Arbeitskräfte, die in den Strafkolonien kostenlos oder nahezu kostenlos genutzt werden können. Und Minderjährige, gerade aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Familien, ohne Zugang zu gutem rechtlichem Beistand, sind dabei die leichtesten Opfer.

Der belarussische Staat ist bestrebt, diese Informationen nicht nach außen dringen zu lassen. Wir von Nash Dom wollen das Gegenteil: Wir wollen Missstände wie diese aufdecken, den Betroffenen zur Seite stehen und internationale Öffentlichkeit für die Situation hier in Belarus erreichen. Unterstützen Sie uns dabei, indem Sie diese Informationen weiterverbreiten!

Weitere Informationen zur Arbeit von Nash Dom gibt es unter www.nash-dom.info (auf Russisch) und auf der BSV-Website unter www.soziale-verteidigung.de/international-gewaltfrei/belarus

 

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