Eine der jüngsten Enthüllungen des Netzwerks betrifft massive Kinderrechtsverletzungen an minderjährigen Inhaftierten, die z.T. wegen kleinster Vergehen mehrjährige Haftstrafen verbüßen müssen. Jeder einzelne dieser Fälle, der an Nash Dom herangetragen wird, wird minutiös aufgearbeitet. Die Aktivist*innen von Nash Dom sind häufig die einzige Hoffnung für die Kinder und ihre Eltern; die Öffentlichkeit, die durch Nash Doms russisch- und englischsprachige Berichte über die Einzelfälle erreicht wird, oft der einzige Schutz. In diesem Newsletter berichtet Nash Dom nun auch auf Deutsch über einen dieser Fälle: den des zum Zeitpunkt der Inhaftierung erst 17-jährigen Vladislav Sharkovsky (Foto)* aus Minsk, der ohne sein Wissen als Drogenkurier benutzt wurde.
Kurzbeschreibung des Falles
Anfang 2018 fand Vladislav Sharkovsky einen Job als Kurier für Aroma- und Rauchmischungen bei einem Internet-Shop. Ihm wurde mitgeteilt, dass der Internet-Shop legale Aktivitäten ausübt und dass der Vertrieb von Aromamixen und Rauchmischungen in Belarus nicht verboten ist. Dass er dazu benutzt werden würde, Rauschgift zu verkaufen, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
Am 16.03.2018 wurde Vladislav festgenommen. Die Polizist*innen nutzten physische Gewalt und fesselten ihn mit Handschellen. Vladislavs Eltern wurden erst fünf Stunden nach seiner Verhaftung, gegen 2 Uhr morgens, darüber informiert. Er wurde in Gewahrsam gebracht.
Am 04.09.2018 wurde Vladislav gemäß Artikel 328 Absatz 4 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus zu zehn Jahren Freiheitsentzug mit Verbüßung der Strafe in einer staatlichen Strafkolonie verurteilt. Nach diesem Artikel werden Mitglieder der organisierten Kriminalität verurteilt.
Beurteilung des Falls durch Expert*innen von Nash Dom
Dem ausführlichen Gutachten der Rechtsanwält*innen von Nash Dom wurde Artikel 328 Absatz 4 gegen Sharkovsky Vladislav rechtswidrig angewendet. Bei der Verurteilung wurden gleich mehrere Umstände, die den Grad und die Art seiner Verantwortung für die Tat beeinflussten, nicht berücksichtigt. Insbesondere wurde nicht berücksichtigt, dass Vladislav nicht wusste, dass er eine Straftat beging und dass er von Erwachsenen dazu angestiftet wurde. Das Gericht machte keinerlei Anstrengungen, den Anstifter*innen auf die Spur zu kommen. Dies wäre jedoch nötig gewesen, um die Existenz einer organisierten kriminellen Vereinigung im Hintergrund nachzuweisen. Weitere mildernde Umstände wie die Minderjährigkeit des Angeklagten, seine aufrichtige Reue, die schwierige finanzielle Situation seines Elternhauses und die Tatsache, dass er den Ermittler*innen nach seiner Inhaftierung bereitwillig Auskunft erteilte, wurden beim Urteil nicht berücksichtigt.
Hinzu kommt, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Rechte des minderjährigen Vladislav wiederholt verletzt wurden:
- Bei der Inhaftierung wurde ohne gerechtfertigten Grund und ohne vorherige Ankündigung körperliche Gewalt angewendet, obwohl die Inhaftierung auch gewaltfrei möglich gewesen wäre.
- Vladislavs Eltern als gesetzliche Vertreter*innen wurden nicht unverzüglich über die Inhaftierung ihres Kindes informiert.
- Die Untersuchungshaft wurden ungerechtfertigterweise verhängt, da keine Anhaltspunkte für Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestanden. Gerade bei Minderjährigen sieht die belarussische Strafprozessordnung in diesem Fall die Möglichkeit vor, dass der Angeklagte statt einer Untersuchungshaft unter Aufsicht gestellt wird. Die Untersuchungshaft darf bei Minderjährigen laut UN-Normen nur als letztes Mittel angewandt werden.
13.000-18.000 Fälle dieser Art in Belarus
Angesichts all dieser Umstände ist nach Einschätzung der Rechtsanwält*innen von Nash Dom sowohl die Rechtmäßigkeit des Urteils als auch die Verhältnismäßigkeit der Strafe stark in Zweifel zu ziehen. Doch Familien wie die von Vladislav haben oft kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Hier werden die Aktivist*innen von Nash Dom aktiv: Sie begleiten Fälle wie den von Vladislav, unterstützen die Familien durch juristische Expertise und Öffentlichkeitsarbeit und decken offensichtliche Rechtsverstöße auf. Geschätzt 13.000-18.000 Fälle dieser Art gibt es derzeit in Belarus, die genaue Zahl ist unklar.
Zu viele für die begrenzten Ressourcen von Nash Dom, längst nicht alle Fälle können sie so detailliert aufbereiten wie den von Vladislav oder den von Darya Bondarkova (Foto)*, einem 17-jährigen Mädchen, das 2017 zum Kauf einer Kleinstmenge von Drogen angestiftet und in der Folge zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch in diesem Verfahren wurden zahlreiche Verstöße gegen die Rechte Minderjähriger festgestellt. Darüber hinaus zwang die Polizei Darya, „Testverkäufe“ an weitere Jugendliche und junge Erwachsene zu unternehmen. Auch diese wurden im Anschluss verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein System, das immer mehr junge Menschen in die belarussischen Gefängnisse und Straflager spült.
Über die Einzelfallarbeit hinaus arbeiten die Aktivist*innen deshalb darauf hin, dass das belarussische Rechts- und Polizeisystem auch strukturell grundsätzlich überarbeitet wird und z.B. die internationalen Normen zum Schutz von Minderjährigen umgesetzt werden. Eine Forderung von Nash Dom lautet, dass in Fällen wie dem von Vladislav und Darya nicht die Minderjährigen, sondern die erwachsenen Hintermänner und -frauen den Hauptteil der Schuld und damit auch den Hauptteil der Strafe tragen müssen.
Welch dramatische Auswirkungen das derzeitige System für die Jugendlichen haben kann, das beweist der Fall des zur Tatzeit erst 17-jährigen Emil Ostrovko (Foto)*, den Nash Dom ebenfalls betreut. Emil wurde wie Vladislav wegen vermeintlich organisierten Drogenhandels inhaftiert und zur gleichen Strafe verurteilt: Zehn Jahre Haft im Straflager. Noch während der Untersuchungshaft versuchte er, sich das Leben zu nehmen.
*Die Namen und die Fotos der Jugendlichen werden mit Erlaubnis ihrer Eltern veröffentlicht, um auf die zahlreichen Verstöße gegen die Rechte ihrer Kinder aufmerksam zu machen.