Wir möchten die frohe Nachricht teilen: Es ist uns gelungen zu verhindern, dass der Teenager Julian K. (17) für 8 bis 10 Jahre ins Gefängnis gehen muss.

Dem 17-jährigen Julian K. drohte durch den berüchtigten „Drogenartikel“ 328 eine Gefängnisstrafe von 8-10 Jahren. Tatsächlich war die „Beweislage“ die gleiche wie bei allen früheren Teenagern, die 8-10 Jahre im Gefängnis bleiben müssen und für deren Entlassung „Nasch dom“ („Unser Haus“) nun mit ihren Müttern kämpft. Es gab in seinem Fall wieder sogenannte „nicht identifizierte Personen“ und die Untersuchung kam erneut zu dem Schluss, dass Julian Teil einer organisierten Gruppe sei, die mit Drogen handelt.

Zum Zeitpunkt der Verhaftung von Julian hatte er 5 Gramm α-PVP bei sich. Da Vladislav S. eine Haftstrafe von 10 Jahren für 0,89 g α-PVP erhielt und Emil O. 10 Jahre für0,13 g Marihuana und 0,49 g α-PVP ins Gefängnis musste, waren diese 5 Gramm nach den Maßstäben der belarussischen Ermittler*innen ein „riesiges Gewicht“. Diese 5 Gramm waren daher am problematischsten bei den Versuchen, seine – unseres Erachtens nach – unangemessene Strafe abzumildern.

Seine Geschichte finden Sie hier:

https://www.youtube.com/watch?v=OHVhDI9VDFo

Am 16.04.2019 ist es uns gelungen, Julian K.s ursprüngliche Verurteilung nach Teil 3 des Artikels 328 (illegaler Umsatz von Drogen in Gruppen) in eine Verurteilung nach Teil 1 des Artikels 328 (persönlicher Drogenbesitz) umzuwandeln. Der Richter verhängte 2,6 Jahre Hausarrest (ähnlich einem offenen Strafvollzug) für Julian. Diejenigen, die zumindest ein wenig mit den Besonderheiten der belarussischen Justiz vertraut sind, wissen, dass Richter*innen in der Regel eine höhere Strafe verhängen, als von der Untersuchungskommission (ähnlich unserer Staatsanwaltschaft) gefordert wird und nicht durch eine deutlich mildere ersetzen. Stattdessen wird im Rahmen eines Artikels des Strafgesetzbuches höchstens um einen Teil niedriger geurteilt. (Je größer die Ziffer des Teils des Gesetzes, desto höher ist die Strafe.) Demzufolge ist eine Herabsetzung der Strafe von Teil 3 auf Teil 1 ungewöhnlich.

Julian, der ab dem Zeitpunkt seiner Inhaftierung in der Untersuchungshaftanstalt festgehalten wurde, wurde unter dem Jubel aller Anwesenden sofort im Gerichtssaal freigelassen.

Die Situation ist für die belarussische Justiz eher untypisch.

Wie haben wir es diesmal geschafft, den Teenager aus dem Gefängnis zu holen und ihn nicht zu 8-10 Jahren Gefängnis verurteilen zu lassen?

  1. Der sofortige Hilferuf. Julians Mutter bat „Nasch Dom“ sofort (nur einige Tage später) nach der Inhaftierung ihres Sohnes um Hilfe. Die anderen Mütter der betroffenen Jugendlichen wandten sich erst nach der Urteilsverkündung an „Nasch dom“. Und es ist sehr schwierig, eine Urteil nach der Urteilsverkündung vom Gericht erster Instanz zu ändern – es ist einfacher, das Gericht erster Instanz vor der Urteilsverkündung zu beeinflussen. Die Behörden mögen es nicht, bereits getroffene Entscheidungen aufzuheben und Fehler zuzugeben.
  2. Das vertiefte Verständnis und die Verarbeitung der bisherigen Erfahrungen. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Kampf der Mütter gegen grausame Urteile ihrer minderjährigen Söhne wurden gesammelt, ausgetauscht und dadurch besser verstanden. Es war überaus hilfreich, dass andere Mütter ihre bitteren Erfahrungen teilten, so dass Julians Mutter die Konsequenzen für ihren Sohn sehr gut verstand. Alles läuft nach einem vordefinierten Szenario ab. Sie war bereit zuzuhören und zu handeln.
  3. Die Menschenrechtsaktivisten haben hervorragend gearbeitet.
  4. Die zweite Durchsuchung zu Hause wurde blockiert. Dem Untersuchungsausschuss gelang es, die erste Durchsuchung im Haus des minderjährigen Julian K. durchzuführen. Es wurden keine Drogen bei ihm zu Hause gefunden, mit denen der Beschuldigte angeblich handelte. Die Drogen wurden bei Julian gefunden, der sie bei sich trug.

Am 04.03.2019 versuchten Ermittler*innen, eine zweite Durchsuchung in Julians Haus durchzuführen. Aber die Menschenrechtsaktivisten Valery Shchukin und Kateryna Sadovskaya kamen als Zeug*innen schnell dazu. Die Ermittler*innen weigerten sich jedoch, eine Durchsuchung in ihrer Anwesenheit durchzuführen und verließen das Haus. Auch bei einem dritten Versuch, eine Durchsuchung durchzuführen, wurde diese durch die Präsenz von Menschenrechtler*innen verhindert. Letztlich fand die Gerichtsverhandlung ohne eine weitere Durchsuchung der Wohnung statt.

a. Drei Menschenrechtsverteidiger*innen (Tatsiana Mironova, Pavel Levinov und Olga Karach) schrieben ständig Beschwerden und konsultierten die Mutter von Julian. Im Laufe von drei Monaten wurden mehr als 100 Beschwerden über Verstöße im Fall Julian an verschiedene staatliche Stellen gerichtet. Der Untersuchungsausschuss wurde nervös, und beeilte sich, den Fall schnell an das Gericht zu übergeben. Diese Beschwerden erwiesen sich auch bei der Verteidigung vor Gericht als sehr nützlich. Darüber hinaus war dem Gericht und dem Untersuchungsausschuss klar, dass es, wenn die Mutter in der Anfangsphase so sehr kämpft, schwierig sein wird, die Beschwerden in den folgenden zehn Jahren zu bearbeiten und Gründe für die Haft zu finden. Zynisch gesagt: Es ist einfacher, sich nicht mit dem Erfinden von Antworten zu quälen, sondern stattdessen in dieser Zeit 3-4 andere Jugendliche einzusperren, deren Eltern die Justiz nicht mit Beschwerden belästigen.

b. Informationskampagne. Es ist uns gelungen eine Informationskampagne über den Fall Julian zu starten. Unter anderem gelang es über den YouTube-Kanal „Nasch dom“, der ein Videointerview mit Julians Mutter veröffentlichte, 7.000 Zuschauer*innenzu erreichen. Die Geschichte löste in einer Reihe von Gruppen in belarussischen sozialen Netzwerken heftige Diskussionen aus. Die belarussischen Behörden mögen es nicht, wenn jemand Lärm macht und sich öffentlich über sie empört. Die Methoden und Reaktionen der Behörden auf Lärm und Kritik können unterschiedlich ausfallen, aber in diesem Fall funktionierte der Lärm gut und zugunsten von Julian.

5.Solidarität der Familie. Nicht nur die Mutter und die Menschenrechtsaktivist*innen kämpften für Julian, sondern auch der Rest der Familie. Für den Untersuchungsausschuss war das eine lästige Angelegenheit. Es kam zu dem Punkt, dass die Familie mehrmals zur Kommission für Angelegenheiten der Minderjährigen vorgeladen wurde. Dort versuchte man, „Erziehungsgespräche“ zu führen:  Die Mutter sollte man kämpfen lassen, aber der Vater und die Großmutter sollten sich nicht einmischen. Und es sei besser, überhaupt keine Beschwerden zu schreiben, um den Untersuchungsausschuss nicht zu irritieren. Aber die Familiensolidarität (in Belarus ist sie noch geringer als die politische Solidarität) hat wesentlich zum Schutz von Julian beigetragen.

Nash dom gratuliert Julian K. und seiner Familie, dass er endlich zu Hause ist und seine Mutter und seine ganze Familie umarmen kann.

Nash dom kämpft weiter für diejenigen heranwachsenden Jugendlichen, die für viele Jahre unter menschenrechtswidrigen Bedingungen in Haft sitzen.

 

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