In den Jahren 2016 und 2019 begingen in belarussischen Gefängnissen nach offizieller Statistik zwei junge Männer, die nach Artikel 328 des Strafgesetzbuches (Drogenartikel) zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden waren, Selbstmord. Vor ihrem Tod haben die Gefangenen Folter und Misshandlungen durch die Mitarbeiter der Strafvollzugsanstalten gemeldet.

Der Fall Jegor Protasenya

Ende 2015 wurde der 20-jährige Einwohner von Salihorsk, Jegor Protasenya, nach Artikel 328, Teil 3 des Strafgesetzbuches für den Handel mit Drogen zu 14 Jahren Haft verurteilt. Er bekannte sich nicht schuldig. Jegor Protasenya hatte wiederholt über Folter und  Misshandlungen durch die Polizisten gesprochen. Der Leiterin der Initiative „Nasch dom“, Olga Karatsch, wurde sein Selbstmordbrief übergeben, in dem er die Motive seines Selbstmordes ausführlich erläutert und direkt über Folter und Misshandlungen gesprochen hat. Darüber hinaus schrieb er, dass er das Verbrechen, für das er zu 14 Jahren verurteilt wurde, nicht begangen hatte.

Bereits einen Monat nach der Verkündung seines Urteils versuchte sich Jegor Protasenya im Gefängnis von Zhodzina (eine Stadt nicht weit von Minsk) umzubringen. Im Koma wurde er in ein örtliches Krankenhaus und später in das Krankenhaus einer Minsker Strafvollzugsanstalt gebracht.

Einige Zeit später fand seine Gerichtsverhandlung statt. Das Urteil wurde nicht aufgehoben, aber aufgrund seines Gesundheitszustandes musste er die Haft nicht antreten.

Jegor Protasenya

Nach dem Prozess wurde Jegor Protasenya ins Salihorsker Krankenhaus gebracht, von wo aus ihn seine Mutter nach Hause brachte, um ihn zu pflegen. Drei Wochen später starb er.

Vollständige Chronik der Ereignisse:

April 2015 – Jegor Protasenya wurde von den Drogenkontrollbeamten von Salihorsk festgehalten. Während der Untersuchung schrieb er an seine Mutter über seine Absicht, Selbstmord zu begehen, und während der Besuche berichtete er von unerträglichen Folterungen durch Mitarbeiter der Drogenkontrollabteilung.

  1. Dezember 2015 – Das Bezirksgericht Salihorsk verkündete das Urteil: 14 Jahre Gefängnis.
  2. Januar 2016 – Selbstmordversuch in Einzelhaft im Gefängnis Zhodzina. Wächter nahmen Jegor aus der Schlinge, trafen aber keine entsprechenden Erste-Hilfe-Maßnahmen. Wegen der verspäteten Hilfeleistung fiel er ins Koma. Er wurde auf die Intensivstation des Zentralkrankenhauses der Stadt Zhodzina gebracht.
  3. und 20. Januar 2016 – Der Direktor des Gefängnisses Zhodzina verweigerte die Genehmigung für Svetlana Protasenya, Jegors Mutter, ihren Sohn im Krankenhaus zu besuchen.

Januar 2016 – Der Untersuchungsausschuss führte eine Untersuchung des Selbstmordversuchs des Verurteilten durch. Svetlana Protasenya wurde gesagt, dass nur ihr Sohn für den Vorfall verantwortlich sei und niemand sonst. Alle Briefe und Beweise von Folterungen durch Polizisten bei dem jungen Mann wurden als „nicht glaubwürdig“ und „nicht ernsthaft“ qualifiziert.

Februar 2016 – Jegor wurde in ein Krankenhaus in der Minsker Haftanstalt in der Wolodarskaja-Straße verlegt. Das Bezirksgericht Minsk bestätigte das Urteil, aber Jegor Protasenya musste aus gesundheitlichen Gründen die Haft nicht antreten .

  1. März 2016 – Jegor wurde ins Krankenhaus Salihorsk verlegt. Seine Gesundheit verschlechterte sich dramatisch.
  2. März 2016 – Jegor Protasenya starb im Alter von 20 Jahren in den Armen seiner Mutter.

Der Fall Maxim Rudko

Im Sommer 2018 wurde Maxim Rudko nach Artikel 328, Teil 3  zu 8,5 Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt „IK-22“ („Wolfshöhlen“) geschickt, um seine Strafe zu verbüßen. In der Anstalt wurde Maxim als suizidgefährdet registriert, was darauf hindeutet, dass es schon vor dem erfolgten Selbstmord einige Selbstmordversuche gegeben hatte.

Maxim hoffte, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden, wurde aber vom Leiter seiner Einheit dafür bestraft, dass er sich nicht sauber genug rasiert hatte. Solche Sanktionen können ein Hindernis für die Entlassung auf Bewährung darstellen. Gefängnisdirektorinnen und -direktoren bestrafen Gefangene oft mit ungerechtfertigten Strafen, damit sie nicht vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, sondern für die gesamte Dauer der Haftzeit festgehalten werden. Dies ist in Belarus eine gängige Praxis.

Am 8. März 2019 wurde Maxim erhängt aufgefunden.

Vollständige Chronik der Ereignisse:

August 2018 – Maxim Rudko wurde nach Artikel 328, Teil 3 zu 8,5 Jahren Gefängnis verurteilt.

September 2018 – Der Verurteilte wurde in die Strafkolonie-22 geschickt, wo diejenigen, die zum ersten Mal mit Drogen erwischt wurden, ihre Strafe absitzen. In der Kolonie wurde Maxim als selbstmordgefährdet registriert (als Präventivmaßnahme).

  1. bis 4. November 2018 – Einige der Gefangenen in der Kolonie versuchten, als Reaktion auf Strafen aus fadenscheinigen Gründen (schlecht bezogenes Bett, ein nicht zugeknöpfter Knopf am Hemd etc.), zu protestieren.

Februar-März 2019 – Maxims Einheit bekam einen neuen Leiter, der eine Disziplinarstrafe gegen den Verurteilten Maxim Rudko wegen seiner schlechten Rasur verhängte.

Am 8. März 2019 – Am Morgen, als die Gefangenen zum Frühstück gingen, blieb Maxim Rudko in der Gefängniszelle. Später wurde seine Leiche in einem Schrank gefunden.

Am 11. März 2019 wurde Maxim begraben.

 

Schlussfolgerungen von Expert*innen und Menschenrechtsaktivist*innen von „Nasch dom“:

In beiden Fällen begingen die nach Artikel 328 verurteilten Jugendlichen wegen der unerträglichen Bedingungen in Haftanstalten Selbstmord. Es ist bekannt, dass Jegor Protasenya gefoltert wurde. (Die Ermittler legten ihm eine Gasmaske auf den Kopf und blockierten den Sauerstoff, warfen ihm Pfeile in den Rücken, hielten eine Spritze mit brauner Flüssigkeit in die Nähe seiner Hand und drohten, eine Injektion zu geben). Darüber informierte er persönlich und in Briefen an seine Mutter. Vermutlich haben die Polizisten den jungen Mann gefoltert, um aus ihm nötige Geständnisse „herauszuprügeln“.

Yegor weigerte sich jedoch, sich schuldig zu bekennen. Er konnte die Misshandlungen nicht ertragen und plante einen Selbstmord. Die „Briefzensur“ des Gefängnisses Nr. 8 in Zhodzina kontrollierte seine Korrespondenz, d.h. die Mitarbeiter der Anstalt kannten die Selbstmordabsichten des Gefangenen, verhinderten aber die Tragödie nicht.

IK-22 ist zu einer der Kolonien mit den unerträglichsten Haftbedingungen geworden, nachdem Präsident Lukaschenko 2014 angekündigt hatte, dass die Strafen für drogenbezogene Verbrechen verschärft werden sollten. Es ist aus offenen Quellen bekannt, dass Maxim Rudko, der dort seine Strafe verbüßte, versuchte, durch gutes Verhalten eine vorzeitige Entlassung zu erreichen. Der junge Mensch beabsichtigte, sich zu ändern und ein neues Leben zu beginnen. Trotz seiner guten Absichten und Bemühungen erhielt er keine Unterstützung oder psychologische Hilfe. Wahrscheinlich war die ihm aus einem belanglosen Grund auferlegte Strafe der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Theoretisch basiert die Strafgesetzgebung der Republik Belarus auf  allgemein anerkannten Grundsätzen und Normen des Völkerrechts und auf von Belarus unterzeichneten internationalen Verträgen. So hat Belarus das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ratifiziert. Dennoch belegen die beschriebenen Fälle eindrucksvoll, dass diese Grundsätze nicht für Personen gelten, die nach Artikel 328 verurteilt wurden.

Anstelle der allgemein anerkannten Rechtsnormen werden in Strafvollzugsanstalten interne Anweisungen angewendet, auf deren Grundlage die Gefangenen präventiv registriert werden und ungerechtfertigte Strafen erhalten. Darüber hinaus besteht sogar das Staatsoberhaupt selbst auf einer grausamen Behandlung und Misshandlung von Gefangenen im Rahmen des „Drogenartikels“, was gegen die Verfassung und das Völkerrecht verstößt.

Infolgedessen entsteht ein Teufelskreis: Unangemessene Haftstrafen für begangene Straftaten, unmenschliche Behandlung durch Polizeibeamte  und infolgedessen gebrochene Schicksale und ausgelöschte Leben junger Menschen, Teenager von gestern, die alle Chancen gehabt hätten, zum normalen Leben zurückzukehren, wenn das Gesetz funktioniert hätte.

 

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